„Wir lieben Lebensmittel“. Dieser rote Faden zieht sich seit nunmehr drei Generationen durch das Leben der Familie Engelhard.
Angefangen hat alles 1939 in Lohr, einem kleinen Städtchen im Spessart, als Josefine und August Engelhard einen Laden in der Lindig-Siedlung bauten. Für beide gab es nur ein Ziel: der eigene Laden! Sie war Filialleiterin bei Kupsch, einem regionalen Filialisten in Unter-franken, er hatte sich das Rüstzeug bei einem örtlichenLebensmittel-Großhandel geholt.
Das Angebot der örtlichen Baufirma aus Lohr (Nov. 1938) lautete für Bauaushub bis einschließlich Verputz und Anstrich auf gesamt 11437 Reichsmark. Vergleichbar lag der durchschnittliche Verdienst eines Arbeiters in dieser Zeit bei 165 RM pro Monat.
Durch die Kriegswirren konnte der Laden mit nur 40 m² erst 1944 auf Anweisung der örtlichen Kommandantur von Josefine Engelhard eröffnet werden. Es waren schwere Zeiten, bis der Ehemann aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. Die Waren musste Frau Engelhard mit dem Handwagen – ein anderes Fahrzeug gab es nicht – bei örtlichen Großhandel holen und mühsam mehr als zwei Kilometer ziehen. Obenauf die nicht mal zwei Jahre alte Tochter Irmtraud, die mit ihren Möglichkeiten fleißig mithalf.
In den letzten Wochen und Monaten der Kriegszeit waren viele Dinge des täglichen Bedarfs, auch fast alle Lebensmittel rationiert und konnten nur gegen Marken verkauft bzw. getauscht werden. Dafür gab es dann wieder bei der Behörde die Bezugsscheine, die man beim Großhandel gegen neue Waren – falls vorhanden – eintauschen konnte.
Auch nach dem Ende des Krieges war die Mangelwirtschaft an der Tagesordnung.
Vieles zum Überleben wurde mit dem Tauschhandel erreicht, entbehrliche Dinge sanken rapide in ihrem Wert. Der Schwarzmarkt blüht, beliebtes Zahlungsmittel ist die Ami-Zigarette! Ab Mitte 1946 lindern die CARE-Pakete aus den USA so manche Not ein wenig.
Die Zahl der Einwohner in der Lindig-Siedlung nahm rasant zu, viele Familien waren aus den Ostgebieten geflüchtet und wurden teils in einfachen Baracken untergebracht. Damit wuchsen auch die Anforderungen der Kunden, die es zu erfüllen galt.
Mitte 1948 kam mit der Währungsreform die DEUTSCHE MARK in die Geldbörsen.
Das „Kopfgeld“ in Höhe von 40 Mark konnte abgeholt werden, der Umtauschkurs der Reichsmark ist 10:1. Gehälter und Warenpreise wurden 1:1 umgestellt. Der Mangel an Kleingeld war anfangs enorm, da wurden schon mal Ein- und Zweipfennig-Münzen auf Pappe gemalt und als Wechselgeld ausgegeben.
Damit veränderte sich der Handel in kürzester Zeit. Die Zwangsbewirtschaftung hatte ein Ende und wurde von der freien Marktwirtschaft abgelöst. Neben den lebensnotwendigen Grundnahrungsmitteln gab es schon wieder vereinzelt auch „Luxuswaren“ wie z.B. Nescafe (gab es seit 1938) oder Fanta (seit 1940). Für die Kinder gab es jetzt wieder Bonbons und sogar Kaugummi zu kaufen.
Da in vielen Familien chronischer Gelmangel herrschte, war das „Anschreiben“ wieder an der Tagesordnung. Und wenn Vater am Freitagabend mit der vollen Lohntüte nach Hause kam, konnte die Frau beim Kaufmann die Schulden begleichen und für das Wochenende was Gutes einkaufen. Manchmal war der Weg der Lohntüte von einem Abstecher in der nächsten Gastwirtschaft unterbrochen. Da fiel dann der Einkauf zum Wochenende schon mal knapper aus.
Die Geschichtsbücher schreiben das Jahr 1948. Während in der Westzone die Wirtschaft an Fahrt gewinnt, grenzt sich die Ostzone immer mehr ab. Fleißig bauen die Kommunisten am „Eisernen Vorhang“. Kurz nach der Währungsreform kommt es zum ersten Kräftemessen der neuen Mächte. Die Sowjets stoppen den Landverkehr nach Berlin. Doch die Amerikaner lassen die Berliner nicht im Stich. In einer legendären Hilfsaktion fliegen „Rosinen-Bomber“ rund um die Uhr und versorgen über die Luftbrücke die Bevölkerung fast ein Jahr lang mit
1,5 Millionen Tonnen lebensnotwendiger Fracht wie Lebensmittel, aber auch Kohlen und vieles mehr.
Wir sind im Jahr 1949 angekommen. Da gibt es schon den ersten Tchibo Kaffee zu kaufen. In Berlin wurde die Currywurst erfunden. In ihrem Imbiss in Berlin-Charlottenburg verkaufte die gebürtige Königsbergerin Herta Heuwer eine gebratene Brühwurst mit einer eigenen Saucenmischung aus Tomatenmark, Currypulver und Worcestersauce. Im gleichen Jahr wurden in München die Pfanni-Knödel erfunden. Und am 7. Oktober wird in der sowjetischen Zone die DDR gegründet. Deutschland ist geteilt.
Kaum zu glauben: seit dem 1. März 1950 gibt es in der Bundesrepublik keine Lebensmittel-Marken mehr, in der DDR existieren sie noch bis 1958. Am 16. Mai 1950 wird Mainz zum Regierungssitz, vorher war dieser in Koblenz. Im Juni wurde zum ersten Mal ein 8000er, der Annapurna bestiegen. Der Korea-Krieg beginnt. Die Deutschen fangen wieder an, Lebensmittel zu horten und haben Angst vor dem dritten Weltkrieg. Vor Ausbruch gab es in der Bundesrepublik dramatische 14 Prozent Arbeitslose. Doch der Ausbruch des Korea-Kriegs kurbelt den deutschen Export an.
1950 gab es auch Zuwachs im Hause Engelhard. Ein Motorrad samt Anhänger wurde angeschafft. So wurde auch der Warentransport wesentlich erleichtert. Ebenfalls in diesem Jahr wurde August Engelhard Mitglied der EDEKA Genossenschaft Würzburg und bekam von dort einen großen Teil der Waren mit dem LKW angeliefert.
Ab dernächsten Ausgabe berichtet der Chronist (Jahrgang 1951) auch schon mal über eigene Erlebnisse und Erfahrungen.
Auch wenn 1951 der denkbar schlechteste Jahrgang im Bordeaux war, das Wirtschaftswunder hat Deutschland erreicht. Das erste Micky Mouse Heft von Walt Disney kommt auf den Markt. Und Werner Engelhard wird geboren. Geboren in eine der spannendsten Zeiten, die es jemals gab. So wuchs in den Läden das Sortiment von Tag zu Tag an. Die gute Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wurde zur Selbstverständlichkeit, die Mangelwirtschaft verabschiedete sich. „Es darf geschlemmt werden“ so die neue Devise. Typisch dafür wurde der Klassiker der 50er erfunden: Toast Hawaii. Eine verschwenderische Kombination aus Schinken und Käse demonstrierte den neu gewonnenen Wohlstand, Ananas und Cocktailkirschen drückten die Sehnsucht nach der weiten Welt aus. Nach all den Entbehrungen der zurückliegenden Jahre herrscht großer Nachholbedarf. Essen ist das neue Lebensgefühl. Ludwig Erhard, der Vater des Wirtschaftswunders, macht es allen vor.
Auch im Geschäft gab es sichtbar große Änderungen. Überhaupt war der Firmengründer sehr innovativ. Schon 1952 zog der Fortschritt im Hause Engelhard ein, denn es kam die Umstellung auf Teil-Selbstbedienung. Bei den Grundnahrungsmitteln war es üblich, dass sie aus dem 25 oder 50 kg-Sack oder aus Schubladen heraus nach Kundenwunsch abgewogen wurden. Was sonst täglich nach Bedarf gekauft wurde, war jetzt testweise schon in den verkaufsschwachen Zeiten in blau-weiß gestreifte Tüten mit einem Sichtfenster aus Zellglas verpackt worden. So gab es Reis, Grieß, Zucker und Mehl jetzt in Halbpfund- und Pfundpackungen schon fix und fertig. Die Hausfrau zu überzeugen, mehr als den heutigen Bedarf zu kaufen, fiel nicht immer leicht. Durch die rationelle Arbeitsweise konnten die Packungen aber jetzt günstiger verkauft werden, das hat auch Anfang der 50er Jahre schon gezählt.
Im Herbst 1953 kam der erste Stift (heute Azubi), Edda K. ins Haus. Wegen schlechter Verkehrsanbindung zum Heimatort hatte sie während der Woche ein Zimmer in der Nähe und konnte nur zum Wochenende nach Hause kommen. Wochenende hieß es aber erst, wenn Samstag nach Ladenschluss – 18:00 Uhr – die Holzdielen hinter der Bedientheke und im Lager mit Seifenlauge geputzt waren. Der Chronist selbst war gerade den Windeln entwachsen und hatte nun ein neues Opfer für seine Streiche, die von Edda liebevoll geduldet und oft genug vor den Eltern verschwiegen wurden. Häufig durfte sie den Spross zum Kindergarten bringen oder dort abholen. Selbstverständlich hat sie auch die besten Pausenbrote geschmiert. Also schon damals war der Grundstein für einen langen gemeinsamen Weg gelegt worden. Sie war immer ein guter Ratgeber, Helfer und echter Freund für die ganze Familie, der sie über drei Generationen bis zum Rentenbeginn die Treue hielt.
Ja, das Wirtschaftswunder veränderte die junge Republik mit großen Schritten. Waren es im Jahr 1950 noch dramatische 14 % Arbeitslose, mangelt es wenige Jahre später an Arbeitskräften. Darum holt die Regierung 1955 die ersten Gastarbeiter, überwiegend aus Italien nach Deutschland. Die Hausfrau konnte sich das Leben schon mal etwas leichter machen. Miele bringt 1951 die erste Waschmaschine auf den Markt, die auch in der Küche untergebracht werden konnte. Weitere technische Highlights wie ein Bauknecht-Kühlschrank, ein Geschirrspüler oder ein Grundig-Radio standen auf der Wunschliste ganz oben. Kein Problem, einfach bei den Versandhändlern aus dem Katalog aussuchen und bestellen. Dank „bequemer Teilzahlung“, wie der neue Ratenkredit heißt, konnten viele Wünsche erfüllt werden. Schließlich wächst die Wirtschaft in den 50er Jahren jedes Jahr im Schnitt um über 8 Prozent, die Löhne steigen und vielen geht es wieder richtig gut. Die Nachbarn werden zur Party eingeladen, man feiert mit reichlich Alkohol und bewundert den neu angeschafften Nierentisch und die biegsame Lampe mit Tütenschirm. Und ab 1953 steht in dem einen oder anderen Wohnzimmer sogar einer der ersten Fernseher. Die Mädchen tragen bunte Petticoats, enge Capri-Hosen und Nylonstrümpfe. Und die Ehefrauen verführen ihre Männer im neckischen Babydoll …
Aus dem Radio klangen ab Mitte der 50er ganz neue Töne. Der Sender AFN war der Horror für die Eltern, schließlich spielten die den Rock’n’Roll mit Bill Haley oder Elvis Presley. Die Jugend rebelliert gegen den Muff der scheinbar heilen Welt des Spießbürgertums. Die „Halbstarken“ tragen Jeans und Lederjacke, locken sich mit Pomade die Haare wie Elvis und treffen sich in Milchbars und Lichtspielhäusern.
In diese Zeit gehört auch der Aufstand des 17. Juni 1953, der dann mithilfe sowjetischer Panzer gewaltsam durch SED und NVA niedergeschlagen wurde.
Alles war im Fluss. Die Einwohnerzahl in der Siedlung steigt weiter an. Da fällt im Jahr 1956 die Entscheidung, die Ladenfläche durch einen Anbau zu erweitern. Fertiggestellt 1957 gab es dann auch einen Verkauf von loser Milch. Die behördliche Genehmigung dazu gab es nur nach einem einwöchigen Sachkundelehrgang und massiven Hygieneauflagen. Abgefüllt wurde die Milch in die mitgebrachten Milchkannen des Kunden oder in Pfandflaschen. An guten Tagen wurden so schon mal fünf oder sechs der 40-Liter Kannen leergepumpt und verkauft. So gab es jetzt eine gekühlte Verkaufstheke mit Glasscheibe, damit die Kunden das Sortiment an Wurst und Käse auch auswählen konnten.
Der Senf wurde aber immer noch in das mitgebrachte Glas oder Steinguttöpfchen aus einem großen 10-Liter Keramiktopf gefüllt. Einmal ziehen = 10 Pfennig. Essig und Öl kamen aus dem Blechbehälter mit skaliertem Schauglas. Sauerkraut und Salzheringe wurden „frisch“ aus dem Keller geholt, wo sie in 100-Liter Fässern lagerten. Der Chronist war inzwischen schon groß und stark genug, um den mit einem schweren Sandstein belasteten Holzdeckel aus dem Sauerkrautfass zu holen und so von der gesunden Rohkost zu naschen. Aber nur nicht erwischen lassen.
Mit der Erweiterung des Ladens durch den Anbau gab es jetzt auch in der Wohnung mehr Platz für die fünfköpfige Familie. So bekamen die „großen“ Schwestern jeweils ihr eigenes Zimmer, während für den kleinen Bruder auch nur eine kleine Kammer übrig blieb.
Im Jahr 1957 begann aber auch der Ernst des Lebens, die nicht immer geliebte Schule.
Mit mehr als 50 weiteren Erstklässlern und einem „alten“ Lehrer war jetzt in der städtischen „Bueweschul“ Zucht und Ordnung das neue Tagesprogramm. Die Mädchen wurden in einer anderen Schule von Nonnen unterrichtet. Mit dem Ranzen auf dem Rücken und einer großen Zahl von Freunden wurden die 2 Kilometer Schulweg zweimal täglich und bei Wind und Wetter geschafft. Manchmal unterbrochen von spannenden Abenteuern auf dem Weg.
Da gab es auch schon mal nasse Schuhe und Hosen oder mehr. Auch wenn es im Hause Engelhard schon eines der wenigen privaten Telefone gab, konnte der säumige Sohn nicht angerufen werden, wenn das Mittagessen am Tisch kalt wurde. Danach fiel das „Lob“ schon auch mal herzhafter aus.
Die große Schwester Irmtraud hatte ihre Schulzeit schon beendet und durfte als der dritte „Stift“ im Haus ihre Ausbildung beginnen, die sie 1960 mit Auszeichnung abgeschlossen hat.
In einem Familienbetrieb war es selbstverständlich, dass auch die Kinder fleißig mithalfen. Für den jüngsten Spross gab es die spannende Aufgabe, Hühnerfutter und Legemehl aus dem 50-kg-Sack in Kilo- oder Fünfpfundtüten zu füllen. Den fast leeren Sack konnte er dann im eigenen Hühnerstall ausschütteln.
1958 kam das erste Auto in die Firma, ein Opel Olympia Caravan. Das war auch dringend nötig, um damit täglich bei Wind und Wetter – vor Regen schützte ein Kleppermantel — die Kunden im Neubaugebiet direkt an der Haustüre mit dem Notwendigsten zu versorgen.
Irgendwie lag es schon immer in der Familientradition, dass wir die Menschen versorgen.
So zeigt der fast lückenlose Stammbaum der Familie auffallend viele Kaufleute, Weinwirte und Gastronomen auf. Immerhin bis Ende des 17. Jahrhunderts zurück ist das alles dokumentiert, als ein gewisser Petrus Engelhard in Östrich am Rhein lebte.
Ebenfalls weit zurückgeht die historische Verbindung zwischen Lohr und Mainz.
Die Grafen von Rieneck erbauten Ende des 14. Jahrhunderts das Lohrer Schloß. Nach dem Tod des letzten Rienecker Grafen Philipp III übernahmen 1559 die Kurfürsten von Mainz als Landesherren das Schloß. (Die Stadt Lohr gehörte bis 1808 zum Kurfürstentum Mainz)
Es wurde Sitz der Oberamtsmänner des Kurfürsten. Der bekannteste war Philipp Christoph von und zu Erthal. Er war Vater der beiden fürstbischöflichen Söhne, die im Lohrer Schloß aufwuchsen. Geboren 1719 wurde Friedrich Karl Joseph von Erthal Kurfürst von Mainz und Fürstbischof für das Bistum Worms. Der 1730 geborene Franz Ludwig von Erthal wurde Fürstbischof zu Bamberg und Würzburg.
Im Jahr 1725 wurde Maria Sophia Margaretha von Erthal im Lohrer Schloß geboren.
Was die Gebrüder Grimm in ihrem Märchen geschrieben haben, wurde 1986 von den
„Lohrer Fabulologen“ unter Federführung von Dr. Karlheinz Bartels in vielen weinseligen Studien erforscht und dokumentiert. So steht es geschrieben, dass Maria Sophia von Erthal das „wahre“ Schneewittchen sei. Der Spiegel und die ganze Geschichte bzw. Märchen kann im Lohrer Spessartmuseum, das im Schloß beheimatet ist, weiter erforscht werden.
In der Umgebung zeugen noch heute viele Marksteine in Wald und Flur von der Vergangenheit mit dem Mainzer Rad. Der Landkreis Lohr a. Main hatte bis zur Gebietsreform 1972 das Mainzer Rad in seinem Wappen geführt. Auch im aktuellen Wappen des Landkreises Main-Spessart ist das Mainzer Rad zu sehen.
Ende der 50er Jahre hatte die Bevölkerung in der Lindig-Siedlung weiter zugenommen und es entwickelte sich ein regelrechter Bauboom. Den Einfamilienhäuschen folgten schnell die Doppelhäuser, aber auch Wohnblocks mit 4 bzw. 6 Wohnungen. Die Straßennamen künden von der Herkunft der neu dazu gekommenen Bürger. Schlesier‑, Sudeten‑, Pommern- sowie Egerer- und Görlitzerstraße, da gab es viel Neues zu lernen. Auch die verschiedenen Dialekte der Neubürger klangen oft sehr fremd, was aber mit einem gewissen Sprachtalent leicht auszugleichen war. Das konnte auch im späteren Leben sehr gut eingesetzt werden.
Dank des guten Geschäftsverlaufs und der wachsenden Bevölkerung konnten Engelhards im Jahr 1958 ein Wiesengrundstück an der Schlesierstraße kaufen, um dort einen neuen Laden zu bauen. Die Baugenehmigung wurde zügig erteilt, das Haus flott gebaut. So konnte schon im Sommer 1960 ein moderner Lebensmittelladen mit 70 m² eröffnet werden. Der Vater wurde dabei aktiv von den Töchtern Irmtraud und Anita und weiteren Frauen unterstützt.
Der Laden war nach neuesten Prinzipien in Selbstbedienung aufgebaut und auch mit einem offenen Kühlregal ausgestattet. Die Kunden hatten ihren Einkaufskorb am Arm und konnten aus den Regalen und Gondeln frei wählen. Wurst und Käse wurden aus der Bedientheke verkauft, dort gab es auch frisches Brot von einem Bäcker aus der Stadt. Als besonderer Service gab es gekühltes Bier zu kaufen. Das war für die Hausfrau wichtig, damit der Mann nach der Arbeit auch heimkam und nicht in die Gastwirtschaft einkehrte, was die Haushaltskasse schonte. Schließlich hatte nicht jeder Haushalt einen Kühlschrank. Auch eine elektrische Registrierkasse gab es jetzt, so musste nicht mehr der Einkauf mit Bleistift und Block aufaddiert werden.
Da der „Chef“ jetzt im neuen Laden, der nur 3 Straßen weiter war, überwiegend tätig war, stieg Edda K. – der „Stift“ von 1953 — quasi zur Chefin im alten Laden auf. Was sie jedoch nicht davon abhielt, auch weiterhin jeden Tag bei Wind und Wetter, Sommer wie Winter, mit ihrem Fahrrad die 5 km von Steinbach in die Siedlung zu fahren.
Die Einführung der Tiefkühlkost war quasi eine Revolution. Und ab 1962 gab es im neuen Laden auch die erste Tiefkühltruhe. Unter der Marke Findus, ein Unternehmen ursprünglich aus Schweden, das von Nestlè gekauft wurde, gab es Fischstäbchen, Forellen, Spinat und Erbsen. Später kamen auch Hähnchen und weitere Produkte dazu.
Nur wenige Jahre nach Eröffnung des neuen Ladens hatte die Lindig-Siedlung deutlich über 2000 Einwohner. Der Neubau einer Kirche und später eines Kindergartens förderte das Zusammenwachsen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Arbeit fand man im Eisenwerk oder der Glashütte, in der Drahtfabrik oder Kleiderfabrik, aber auch bei der Bahn.
Rückblickend auf das Ende der 50er Jahre machte „King“ Elvis Presley mit seiner Musik Rockabilly, aber auch mit seiner dynamisch-erotischen Bühnenperformance unsere Eltern tanz „verrückt“. Als Soldat der US-Army kam 1958 die Versetzung nach Bad Nauheim in Hessen, wo er bis 1960 seinen Wehrdienst ableistet. Die Musik war aber weiterhin dem Wandel unterworfen. Der neue Sound – der Rock – war geboren, als sich 1962 die Rolling Stones in London gründeten. Und sie sind immer noch – nach 45 Jahren – aktiv! Im gleichen Jahr brachten die Beatles ihre erste Single Love Me Do heraus. Jetzt gab es auch immer mehr Radiosender wie Radio Luxemburg oder AFN, die solche Musik bevorzugt spielten. Da gab es zuhause schon mal heftige Diskussionen um die Musik aus dem Radio, das in der Küche aufgestellt war. Mutter hatte es nicht leicht, wenn ich mir mit meinen beiden älteren Schwestern mal einig war. Da wurde auch gerne lauter aufgedreht. „Mach die Negermusik aus!“, hieß es dann manchmal hörbar.
Auch wenn die 60er Jahre viele positive Entwicklungen zeigten, gab es 1961 eine tiefe Wunde in Deutschland. Im August riegelte in Berlin die Nationale Volksarmee den Ostsektor mit Stacheldraht ab und errichtete die Mauer, die für lange 28 Jahre Deutschland teilen sollte.
Von kürzerer Dauer, aber für Hamburg und die Nordseeküste besonders dramatisch war die Sturmflut im Februar 1962, bei der 315 Hamburger ihr Leben lassen mussten. Bei der Bewältigung der Katastrophe hat der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt als Innensenator der Stadt die zentrale Einsatzleitung übernommen und dabei eine großartige Leistung für seine Hamburger erbracht. Im Oktober 1962 stand die Menschheit am Abgrund eines möglichen Atomkriegs durch die Kuba-Krise. Die Aufrüstungsspirale drehte sich rasant.
Auch im Lebensmittelhandel ging der Wandel mit großen Schritten weiter. Die Sortimente wuchsen rasant und füllten die Regale. 1961 kam Miracoli Spaghetti als Erinnerung an den ersten Italien-Urlaub auf den Tisch, ab ‘62 der Philadelphia Frischkäse und ab ‘63 Sunkist. Da gab es nicht nur den Chianti in der Korbflasche, sondern auch Pizza und Pasta. Es gab ja auch in Lohr viele Gastarbeiter, überwiegend aus Italien oder Jugoslawien, in Deutschland waren es 1966 insgesamt 1,2 Millionen. Aber auch der Wettbewerb wurde immer härter, weil sich neue Verkaufsformen zeigten. Die ersten Discountläden eröffneten in größeren Städten, die üblichen Rabattmarken fielen weg und wurden durch Werbung mit Sonderangeboten ersetzt. Bei EDEKA wurde ein Niedrigpreis-Sortiment eingeführt, das überwiegend aus den gängigen Grundnahrungsmitteln bestand. Gleichzeitig wurde das Angebot von Frischwaren wie Obst und Gemüse, Milchprodukte und Tiefkühlwaren ausgeweitet. Auch die beiden Läden der Engelhards nehmen an diesem Wandel intensiv teil.
Mitte der 60er Jahre war der Chronist mit seinem Latein am Ende …
Wie es weiter geht, erfahren Sie in der nächsten Kolumne.
Ja, 1965 war der Chronist mit seinem Latein am Ende. Die Lehrer waren der Meinung, dass eine solche Note nicht für das Vorrücken in die nächste Klasse reicht. Eigentlich war ja nur der Direktor des Gymnasiums schuld, der als Humanist dem Vater geraten hatte, den Sohn als zweite Fremdsprache doch besser Latein lernen zu lassen. Der aber wollte partout nur Französisch als neues Fach haben. Na ja …
Immer vielseitig interessiert und neugierig galt es nun, sich für die richtige berufliche Bahn zu entscheiden. Drogist war die Wahl und eine Lehrstelle war auch bald gefunden. In einem Vorort von Würzburg in einer klassischen Dorfdrogerie begann am 1. August die drei Jahre dauernde Lehre. Außer dem Chef gab es im Haus nur Kolleginnen, was er gar nicht als schlimm empfand. Und zum Lernen gab es reichlich, die Bandbreite war schon riesig. Von den (nicht apothekenpflichtigen) Arzneimitteln über Babynahrung und –Pflege, Chemikalien für Winzer, Landwirte und Handwerker, Drogen (=Heilkräuter), Farben und Tapeten, Foto, Hygieneartikel, Kosmetik, dekorativ und pflegend, Spritz- und Düngemittel und vieles mehr, es gab alles und das mit guter Beratung. Der Chef wusste mit der Neugierde des Lehrlings richtig gut umzugehen, sodass es nie Langeweile gab. Ihn konnte jeder wirklich alles fragen und es gab auch immer eine Antwort. In der Berufsschule ging es ebenso spannend weiter. Vier Jungs mit fast 30 Mädchen in einer Klasse war schon manchmal anstrengend, aber man wächst ja mit seinen Aufgaben. Neben den kaufmännischen Fächern gab es jetzt noch Chemie, Fachlatein (nicht schon wieder!), Botanik, Drogenkunde und die Ausbildung im Fotolabor. Schon nach einem Jahr gab es zuhause im Bad dann das eigene Fotolabor in Schwarzweiß.
Der Tagesablauf war schon recht kompakt. Um 6:30 Uhr früh ging es mit Bahn und Bus zur Arbeit. In den 1,5 Stunden Mittagspause wurden oft die Hausaufgaben mit den zwei älteren Lehrmädchen gemacht, damit abends auch mal freie Zeit war, wenn man um 20 Uhr nach Hause kam. Mutter hatte was Leckeres gekocht, was schnell gegessen wurde. Die Freunde warteten ja schon.
Die drei Jahre Lehrzeit vergingen wie im Flug und schon war der Prüfungstermin da. Alles lief recht gut, nur zum Prüfungsbesten hat es dann doch nicht gereicht. Die sechs Jahre ältere Mitschülerin, die das Chemiestudium nach 2 Semestern abgebrochen hatte, war dann doch unangefochten die Nummer eins. Nach Abschluss der Ausbildung gab es den Wechsel zu einer anderen Drogerie in Würzburg, die eine interessante Tätigkeit mit Verantwortung anbot. Parallel dazu war das monatliche Treffen im EDEKA-Juniorenkreis immer spannend. Da traf man sich mit selbstständigen Kaufleuten und Einkäufern aus dem Großhandel, hörte interessante Vorträge und lernte dabei viele neue Leute kennen. Heute würde man Netzwerk dazu sagen. Und dank dieses Netzwerks ging es auch spannend weiter …
Im Jahr 1969, der Begriff „Networking“war noch nicht geprägt, gab es vom Verkaufsleiter der EDEKA ein interessantes Angebot. Ich könnte doch als Substituten-Anwärter im neuen und größten Supermarkt in Würzburg anfangen. Der war immerhin 450 m² groß und mit allen modernen Techniken ausgestattet. Da gab es nicht viel zu überlegen und ab April ging der Weg in die Lebensmittelbranche. Direkt dem Marktleiter unterstellt gab es für mich reichlich neue Aufgaben, viel zu lernen und auch Entscheidungen zu treffen. Zwischendurch war auch mehrere Wochen der erkrankte Marktleiter in einem anderen, kleineren Markt zu vertreten. Das bedeutete Waren‑, Personal- und Geldverantwortung und machte schon ein bisschen stolz. Schließlich hatte ich gerade erst den Führerschein erworben.
Bei einem der Treffen des EDEKA-Juniorenkreises war dessen Chef aus Hamburg zu einem spannenden Vortrag über Weiterbildung im Handel gekommen. Ab dem nächsten Jahr sollte ein einjähriger Ausbildungsgang – das Praktikum – in Berlin bei ausgewählten Kaufleuten beginnen. Neben der praktischen Arbeit im Markt waren monatlich eintägige bzw. mehrtägige Seminare auf dem Programm, Zwischen- und Abschlussprüfungen waren zu absolvieren. Das war genau nach meinem Geschmack, das wollte ich machen.
Gar nicht begeistert waren aber die Eltern von dieser Idee. Eigentlich hatten sie fest damit gerechnet, dass ich bald in die elterlichen Geschäfte, die beide sehr gut liefen, einsteige und sie entlaste. Die große Schwester hatte nämlich zwischenzeitlich umgesattelt und sich zur PTA ausbilden lassen.
Im November 1969 kam die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch nach Berlin zu fliegen! Der erste Flug, die große Stadt, raus aus dem Spessart in eine völlig neue Welt. Das Vorstellungsgespräch war aufregend, aber auch erfolgreich. Nach der kurzen Beschreibung, was mich erwarten würde, unterschrieb ich den Vertrag. Eine möblierte Wohnung würde mir zusammen mit noch anderen Praktikanten zur Verfügung stehen. Mitzubringen waren also nur persönliche Dinge und Bekleidung, vielmehr ging auch nicht als Bordgepäck im Flieger, denn ein eigenes Auto gab es nicht. Wieder zu Hause ging die Stimmung in der Familie deutlich nach unten. Die Eltern malten die Zukunft tiefdunkel und prophezeiten den persönlichen Untergang in dieser großen und schlimmen Stadt. Immerhin konnte man der Zeitung und dem Fernsehen entnehmen, dass Rauschgift, Sex und Kriminalität an der Tagesordnung wären. Auch die nicht gewaltfreien APO-Demonstrationen, die mit Hundertschaften und auch mit Wasserwerfern bekämpft wurden, waren eine neue Dimension. Aber all dies konnte die Entscheidung nicht mehr umkehren. Also auf ins Abenteuer Berlin!
Berlin ruft! Nach einer ziemlich intensiven Silvester- und Abschiedsfeier mit Freunden war nun Kofferpacken angesagt. Am Nachmittag des 3. Januars 1970 ging der PanAm-Flieger ab Frankfurt nach Berlin-Tempelhof. Die große Stadt empfing den Ankömmling mit Schneetreiben und Schmuddelwetter. Einer der neuen Arbeitskollegen holte ihn vom Flughafen ab. Über den Ku’damm und die Stadtautobahn ging es viele Kilometer querdurch, die Stadt nach Norden. Die Beleuchtung wurde wie die Straßen immer schlechter, bis wir schließlich vor einem großen und dunklen Gebäude ankamen. Da also sollte die Zukunft stattfinden – es war ein Schock! Und wer waren die anderen Mitbewohner in unserer WG? Das war als weiterer Neuling die Margit, eine robuste und immer lustige Nürnbergerin, die drei anderen Herren waren schon drei Monate länger in Berlin und in der spartanischen Unterkunft. Am Ende des Flurs gab es eine zweifache Toilette mit einem Handwaschbecken. Dieses diente für die Morgentoilette und ebenso für die kleine Sockenwäsche und den Geschirr-Abwasch. Die Dusche gab‘s im städtischen Hallenbad in Spandau.
Der folgende Sonntag wurde genutzt, um die anderen Mitbewohner und Kollegen kennenzulernen. Drei „Nordlichter“, einer davon aus Dänemark, trafen auf zwei Franken! Das kann ja spannend werden. Prompt waren sich die drei einig, sich künftig auf „plattdütsch“ zu unterhalten, was das Zusammenfinden nicht einfacher machte. Aber schon nach wenigen Wochen war auch das keine Fremdsprache mehr und ab da ging es auch auf Hochdeutsch.
Am Montagmorgen ging es dann gemeinsam mit dem Auto um 5.45 Uhr los, um auch rechtzeitig zum Dienstbeginn um 6.30 Uhr da zu sein. Der Markt in der Paulsborner Straße in der Nähe des Ku‘damms war mit seinen 700 m² einer der größten in Berlin. Wir als die Neuen wurden vom Marktleiter eingewiesen und durften uns dann noch im Zentralbüro beim großen Chef vorstellen. Dort gab es die große Motivation für eine aufregende und nicht immer einfache Zeit. Frau Netzband, die Stammkraft der Obstabteilung, nahm den Neuling „an die Hand“und zeigte ihm alle wichtigen Punkte der Warenpflege, Platzierung, Verkaufstechnik und Bestellung von Obst und Gemüse. Einige Besonderheiten, bedingt durch die Insellage der Stadt Berlin, waren dabei zu beachten. Nicht alles war an jedem Tag verfügbar. Da wurden auch schon mal große Partien eines Saisonprodukts gekauft und auffällig aufgebaut. Die hohe Kundenfrequenz durch die Haltestelle für vier Buslinien wurde da-durch genutzt. Schon erstaunlich, was da alles verkauft wurde. Ab Mitte Februar war Frau Netzband zwei Wochen im Skiurlaub und übertrug mir die ganze Verantwortung inkl. Rentabilitätsrechnung für die Abteilung mit drei weiteren Mitarbeitern. Jetzt galt es, die Ärmel extra weit aufzukrempeln.
Als Ende Februar die Abteilungsleiterin Obst gut erholt aus dem Urlaub zurückkam, war der Chronist schon ziemlich erleichtert, besonders nach-dem der Revisor von einem Topergebnis bei der Rentabilitätsrechnung sprach. Das machte Mut für neue Aufgaben. Die ließen nicht lange auf sich warten. Benno, der Schlachtermeister vom alten Format, nahm den Neuling unter seine Obhut. In der Fleischabteilung mussten erst mal im Crashkurs Grundkenntnisse von Fleisch und Wurst gelernt werden, bevor es den ersten Kundenkontakt unter Beobachtung gab. Benno mit seiner Alt-Berliner Herzlichkeit und Direktheit war schon ein besonderes Verkäuferta-lent, von dem jeder viel lernen konnte. Viele Kund(inn)en wollten auch nur von ihm bedient werden. Das turbulente Ostergeschäft war vorbei, die spannende Zeit in der Fleischabteilung auch. Endlich war nach mehreren Protesten auch ein Umzug von der spartanischen Unterkunft abseits des Zentrums mitten in das Herz von Berlin gekommen. Mit dem Start der neuen Praktikanten zogen alle in ein großes Appartementhaus in der Wilmersdorfer Straße. Ich durfte zusammen mit Hans-Jürgen, dem „Neuen“ aus Celle, in das Ein-Zimmer-Appartement mit Kochnische und Duschbad einziehen. Das war Luxus pur! Auch hatte Hans-Jürgen ein eigenes Auto, was von Vorteil war. Schnell haben wir uns im neuen Zuhause eingewöhnt und kamen prima miteinander aus. Damals ahnte keiner, dass diese Freundschaft fast 50 Jahre bis zum heutigen Tag halten wurde. Gleiches gilt auch für Richard, der Hans-Jürgen aus der Zeit in der Berufsschule in Celle kannte. Ich selbst hatte Richard, der schon fast ein ganzes Jahr in Berlin war, 1969 bei einer EDEKA-Tagung in Offenburg kennengelernt. Und jetzt treffen wir uns alle auch heute noch, zusammen mit den Ehefrauen regelmäßig einmal bzw. auch mehrfach für ein paar Tage irgendwo in Deutschlands Städten. Telefonische Kontakte der selbstständigen Kaufleute sind sehr viel häufiger. In den monatlichen Seminaren wurde das theoretische Rüstzeug wie Betriebswirtschaft, Personalführung, Rechnungswesen usw. vermittelt. Plötzlich sollte dies auch in der Praxis angewandt werden. Der Marktleiter in der Dahlmannstraße wurde wegen Unregelmäßigkeiten entlassen – und ich sollte ab Montag dort Marktleiter sein. Der Revisor stellte mich den Mitarbeitern als den neuen Vorgesetzten vor, – ich war der Jüngste in der Mannschaft. Nach der Schlüssel- und Tresorübergabe war ich erst mal auf mich allein gestellt. Jetzt galt es, das Team auf eine neue Zukunft mit mir einzuschwören und den Markt wieder auf ein gutes Niveau zubringen. Es gab viele Überraschungen auch menschlicher Art und sehr, sehr viel Arbeit. Auch Überstunden waren an der Tagesordnung. Manchmal kam Hans-Jürgen nach seinem Dienst in der Paulsborner Straße noch zum Helfen bei mir vorbei, bis wir gemeinsam zur Wohnung fuhren. Dort war Arbeitsteilung angesagt. Hans-Jürgen war fürs Saubermachen und Aufräumen im Zimmer sowie zum Zigaretten-drehen für uns beide eingeteilt. Mein Bereich war das Bad und die Küche, ein-schließlich Kochen. So haben wir uns immer perfekt ergänzt.
Berliner Tage hatten wahrscheinlich mehr Stunden als anderswo. Sonst wäre das Tagesprogramm nicht zu schaffen gewesen. Neben ca. zehn intensiven Arbeitsstunden täglich gab es in dieser Stadt noch viel mehr zu erleben. Und wir haben es erlebt! Schließlich war Berlin schon 1970 durchgehend geöffnet, es gab keine Sperrstunde. So musste einfach nur rechtzeitig entschieden werden, ob man die letzte oder doch die erste U‑Bahn nach Hause nimmt. Und dazwischen gab es ja noch den Nachtbus.
Nur bei einem Besuch in Ost-Berlin galten andere Regeln, es war exakt um 24 Uhr Schluss mit lustig, die Vopos (Volkspolizisten = Grenzpolizei) am Grenzübergang Friedrichstraße kannten da keinen Spaß. Das mit dem Zwangsumtausch von 20 DM in Ostmark erkaufte Tagesvisum lief auf die Minute ab. Wenn dann mal beider „Ausreise aus der Hauptstadt der DDR“ eine längere Schlange stand, gab es schon durchaus einen Grund, nervös zu werden.
Die umgetauschten Alumark – beim Ostberliner Taxifahrer war der Kurs 1:7 bis 1:11 – wurden dann in Trinken und Essen umgesetzt. So kostete im Café Moskau am Alexanderplatz die Flasche Krimsekt 5 Mark, und das mit Live-Tanzmusik. In den weniger zentralen Stadtteilen wie Pankow gab´s den Schnaps in der Arbeiterkneipe an der Ecke schon für zwanzig Pfennig. Essen in den HO-Gaststätten (staatliche Handelsorganisation) war aber oft schwierig. Auf die Frage nach Schweinebraten „ham wa nich“, Hähnchen „ham wa nich“, Rinderbraten „ham wa nich“, kam dann die ultimative Frage, was denn da wäre. Ne halbe Ente für fünf fuffzig kam die wenig freundliche Antwort. Also heute Ente satt.
Die Hauptstadt der DDR war viel besser versorgt als der Rest des östlichen Teils Deutschlands! Aber von der Aussichtsplattform des Ostberliner Fernsehturms am Alex konnten die Bürger den sehnsüchtigen Blick in den Westen Berlins richten.
Dort ließ es sich deutlich besser leben, es herrschte Vollbeschäftigung in Deutschland West mit nur 150 000Arbeitslosen, seit diesem Jahr gab es die Lohnfortzahlung bei Krankheit und durchschnittlich wurden 900 DM verdient. Im Handel war die Konkurrenzstärker denn je, bei EDEKA gaben von fast 35 000 zu Jahresbeginn aktiven Kaufleuten deutschlandweit 2700 auf. Dafür wuchsen die Verkaufsflächen weiter und auch neue Unternehmer mit mehreren Filialen waren zu finden. Inden Läden wurden die Waren jetzt mit gedruckten Preisetiketten ausgezeichnet. Gute Kassiererinnen hatten aber mehr als 1000 Preise sicher im Kopf und waren so viel schneller beim Eintippen in der Kasse. Der Strichcode und die Scanner waren da auch noch nicht erfunden.
Zu dieser Zeit kostete das Brot 1,30/kg, ein Paket Butter oder 10 Eier 1,90/kg. Zucker 1,20 und 1kg Schweinefleisch 6,20DM. Benzin war für 0,57 und Heizöl für 0,08 DM zu haben. Im Wirtshaus kostete der halbe Liter Bier 0,70DM. Dort fand auch bei der Fußball-WM in Mexico das „public viewing“statt und MANN gönnte sich auch mal ein Glas mehr. Nur der Chronist hatte als Nicht-Fußballbegeisterter das Endspiel verschlafen.
Jetzt war schon fast ein halbes Jahr der Berliner Zeit vergangen, die Familie und die Freunde in Lohr warteten schon lange auf den Heimatbesuch. Arbeitnehmern aus dem „Westen“ spendierte der Senat halbjährlich einen Freiflug nach Hause. Den wollte ich auch nicht verfallen lassen, also gab es einen Heimat-Kurzurlaub. Geflogen wurde mit PanAm, BEA oder Air France, denn nur die Alliierten durften den Luftkorridor nach Westberlin nutzen.
Die Zeit in Berlin war aber wie im Flug vergangen, weil es so viel zu erleben gab. Beruflich wuchsen die Anforderungen ständig. Urlaubs- oder Krankheitsvertretungen in den anderen Märkten wechselten sich ab, immer wieder neue Aufgaben waren zu lösen. Auch ein Urlaub stand an, es ging zusammen mit Hans-Jürgen – meinem Kollegen und Mitbewohner – für zwei Wochen nach Mallorca.
Gut erholt zurück, gab es die neue Aufgabe, im Zentralbüro die Grundlagen der Filialabrechnung und der Warenwirtschaft zu erlernen. Ganz schön aufwendig, es gab ja noch keine Computer. Dafür aber reichlich Papier und Formulare. Rückblickend ein irrer Aufwand, der aber für die Transparenz und Steuerung des Unternehmens nötig war. Zu den wöchentlichen Warenbörsen durfte ich den Prokuristen begleiten. Dabei wurden auch größere Aufträge oder Kontrakte mit der Industrie bzw. Lieferanten abgeschlossen, die Ware dann nach einem festgelegten Schlüssel auf die Märkte verteilt. Ich hatte verstanden – viel Ware hilft viel Ware zu verkaufen. Das galt aber nur für den Westen Berlins, bei Besuchen im Ostteil wurde der Mangel deutlich sichtbar. Wenn es dort Warenberge gab, dann nur von Dingen, die alle schon hatten oder keiner brauchte. Der Fünf-Jahresplan ließ grüßen.
Im Westen der Stadt pulsiert das Leben, die Menschen leben in vollen Zügen. Der Bahnhof Zoo war nicht nur Bahnhof, und man konnte dort nicht nur Reiseproviant kaufen. Dort gab es alles, wovor uns unsere Eltern immer gewarnt hatten. Das Café Kranzler war noch ein Café, im Europacenter gab es nicht nur die Stachelschweine, sondern auch eine öffentliche Eisbahn. Das Musical HAIR wurde erstmals aufgeführt und im Congress-Zentrum trat Udo Jürgens auf. Im Sportpalast gab’s das legendäre Sechstagerennen, aber auch ein Konzert von Deep Purple. Und immer mal wieder eine nicht nur gewaltfreie Demonstration der APO, die ‘68er waren vielseitig aktiv. Dabei waren auch erstmals die neuen Wasserwerfer zu sehen. Und wir waren mittendrin. Viel dramatischer war die Entstehung der RAF, der Baader-Meinhof-Gruppe, die über 28 Jahre das Land terrorisierte und in dieser Zeit 34 Menschen ermordete.
Es weht der Wind des Wandels durch die Gesellschaft. Hippies und Flower-Power, die sexuelle Befreiung und die Emanzipation der Frauen, Midi-Mode, Strickkleider und Schlaghosen, das letzte Album der Beatles und die Trennung der Band. Es war eine spannende und intensive Zeit, die wir in dieser Stadt erleben durften. Wahrscheinlich das wichtigste Jahr im Leben des Chronisten.
Berlin hat(te) für jeden was zu bieten.
Wie schnell doch die Zeit vergeht. An einem schönen Herbstsonntag lud der Chef seine 14 Praktikanten auf sein Wochenendgrundstück an der Havel ein. Er wollte damit „den jungen Leuten für ihr besonderes Engagement danken“. Die Marktleiter und auch der Prokurist versorgten uns zusammen mit Benno, dem Metzgermeister, mit Essen und Trinken „satt“, am nächsten Morgen fehlten dann nicht nur ein paar Stunden Schlaf. Aber wir waren alle hart im Nehmen.
Für einen Teil unserer Gruppe nahte das Ende des Praktikums. Davor war aber noch eine Woche Seminar im EDEKA-Bildungszentrum in Schlangenbad (Taunus) mit der anschließenden dreitägigen Prüfung zu bestehen. Also tauchten alle noch intensiver in den Lernstoff ein, auch wenn es nach einem 10-Stunden-Arbeitstag nicht immer leichtfiel. Am meisten half dabei das gemeinsame Lernen in der Gruppe, damit alle auf den etwa gleichen Wissensstand kamen. Fast schon klar, dass auch alle aus unserer Gruppe die Prüfung ordentlich bestanden haben. Jetzt waren wir qualifiziert, um als Substitut oder Marktleiter die nächste berufliche Stufe zu nehmen. So kam es zu dem Vorstellungsgespräch in Celle, wo ein Kaufmann einen Substituten für seinen 350 m² großen Markt suchte. Das war interessant, weil ich die schöne Stadt Celle bereits als Besucher kannte. Sie war die Heimatstadt von Hans-Jürgen, meinem Mitbewohner im Zimmer, und ich hatte ihn bei Wochenendbesuchen zu Hause mehrfach begleitet. Ein kurzer Flug mit der Propellermaschine der British Airways nach Hannover, wo mich der neue Chef abholte. Die 40 km Fahrstrecke und eine Kaffeestunde reichten aus, um den „gemeinsamen Draht“zu finden. Die neue Aufgabe hörte sich spannend an. Der erst seit gut zwei Jahren bestehende Markt in einer Ladenzeile des Neubaugebiets, mit Bushaltestelle direkt vor der Türe, hatte reichlich Parkplätze und war von der nahen Bundesstraße gut sichtbar und erreichbar. Da sah auch ich ein gutes Potenzial für Umsatzsteigerung. Das angebotene Gehalt sowie die freie Nutzung des Firmenautos waren interessant, also waren wir uns schnell einig, ab Januar 1971 in Celle zu starten. Bei einem gemeinsamen Abendessen wurde der Vertrag per Handschlag geschlossen, formal war er noch durch die EDEKA-Zentrale zu bestätigen. Für die Rückreise nach Berlin sollte ich noch ein Auto von Celle überführen. Kein Problem, weil der Weg ja schon bekannt war. An der GÜST (Grenzübergangstelle) Helmstedt in die DDR „einreisen“, um dann auf direktem Weg über die Interzonen-Autobahn nach Westberlin zufahren. Was der Chronist dabei erlebte, erfahren Sie in der nächsten Ausgabe.
Der Bruder von Hans-Jürgen, mein Zimmerkamerad, wollte seinen Fiat 124 in Berlin verkaufen, weil dort mehr zu erlösen war. Da es gut mit dem Vorstellungstermin zusammen passte, übernahm ich die Aufgabe. ´ne gute Stunde bis zur Grenze in Helmstedt und dann noch gut 2,5 Stunden Interzonenautobahn, also ist die Abfahrt um 23 Uhr ausreichend, um am nächsten Morgen um 7 Uhr zur Arbeit zu kommen. Soweit der Plan …
Kurz nach Mitternacht war die GÜST Helmstedt erreicht und ich gab meinen Berliner Ausweis (wegen der Wehrpflicht war der erste Wohnsitz Berlin) an der Kontrollstelle ab. Eine ganze Reihe weiterer Transitreisender hatten vor mir das gleiche getan, ohne die Einreisepapiere zurückzubekommen. Schon über eine Stunde warte er hier schon, erzählte mir ein junger Mann, der um 3 Uhr schon in der Backstube stehen sollte. Im Nebenzimmer spielten vier Vopos Karten und dachten nicht daran, unsere Papiere zu bearbeiten. Gegen 1.30 Uhr gab’s für einige Wartende, auch für mich die obligatorische Befragung nach Zweck und Ziel der Fahrt und Kontrolle der Fahrzeugpapiere. Zum Glück hatte mir der Halter eine Bescheinigung ausgestellt, dass ich sein Fahrzeug überführe. Die Fahrzeugkontrolle wurde – oh Schreck – durch eine Grenzerin durchgeführt. Nach dem Rundgang ums Auto, dem Blick mit rollenden Spiegeln am Unterboden des Fahrzeugs sah sie meine Kamera auf dem Rücksitz liegen. Was ich damit mache, war die Frage. Natürlich fotografieren – was sollte ich denn sonst antworten. Nun war die Kamera eine EXA I, gebaut bei der Ihagee in Dresden (und gegen DM in den Westen exportiert), die ich während meiner Ausbildung gekauft hatte. Argwohn war der VOPOin deutlich anzusehen, wie sie dann nach dem Kaufbeleg fragte, den ich natürlich nicht hatte. „Dann fahren Sie mal da drüben in die Garage“, kam die messerscharfe Ansage. Dort durfte ich mehr als das halbe Auto, das ich nicht kannte, zerlegen. Sämtliche Fächer leeren, Rücksitzbank raus, Kofferraumverkleidung und Radkappen demontieren. Wo ich nicht weiter wusste, konnte mir die „Dame“ jeden Handgriff erklären, ohne selbst etwas zu tun. Inzwischen war es schon fast 4 Uhr, als immer noch nichts zu finden war. Ich könne jetzt weiter fahren, meinte die„nette“ VOPOin. Mit Wut im Bauch baute ich das Nötigste wieder zusammen und fuhr los.
Als ich endlich müde in Berlin ankam, war mir klar geworden, dass ich diesen Staat nie wieder im Leben betreten werde. Dieser Vorsatz hielt auch so bis Anfang 1990. Das menschenverachtende Regime sollte mich nie wiedersehen!
Das Jahr in Berlin ging langsam zu Ende. Es war ein erlebnisreicher und wichtiger Abschnitt, der für die Zukunft prägend war. Die Vorbereitungen dazu waren alle(?) getroffen und Celle wartete mit der nächsten Herausforderung. Der Umzug dorthin war kein Problem, weil Hans-Jürgen – mein Zimmerkamerad – meine wenigen Habseligkeiten einfach in seine Heimatstadt mitnahm. Ich hatte noch einen Freiflug nach Hause und habe die restlichen Urlaubstage in Lohr verbracht. Um nicht als Soldat dienen zu müssen, war ich mit erstem Wohnsitz bei einem Berliner Polizisten gemeldet, in Celle gab es dann den Zweitwohnsitz. Die möblierte Einliegerwohnung im Nachbardorf bei netten Vermietern war schnell gefunden. Da ich das Firmenauto für den Weg zur Arbeit kostenfrei nutzen durfte, war das auch kein Problem.
Am Montag, 4. Januar 1971 sollte es für mich losgehen, hatte mein neuer Chef mir mitgeteilt. So hatte ich das Wochenende davor genug Zeit, um mit dem Zug nach Celle zu fahren, meine neue Bleibe zu beziehen, und mich häuslich einzurichten.
Sonntagnachmittag war ich noch bei Familie Jentsch zum Kaffee eingeladen, am Montag um 6.00 Uhr ging es dann im Markt los. Der Chef zeigte mir alle Räume im Markt und stellte mich sämtlichen Mitarbeitern als seinen neuen Stellvertreter vor. Dann war Mithilfe beim Einräumen der Obstabteilung die nächste Aufgabe. Alles war etwas kleiner als in Berlin – auch das Sortiment, weil ja Celle keine Großstadt war. Herr Jobst, der Metzgermeister, zeigte mir die Fleischabteilung, wo er auch selbst verschiedene Wurstsorten produzierte. Passend zur Grünkohlzeit war heute frische Bregenwurst (damals noch mit Hirn hergestellt) an der Reihe. Für mich war das völliges Neuland, aber interessant. Und mir war klar, dass sich in diesen Bereich intensiver hineinschnuppern wollte. Aber alles zu seiner Zeit.
Anschließend kam Frau Wunn, die Bürochefin, um die organisatorischen Abläufe zu erklären und die nötigen Unterlagen zu zeigen. Hier die Kassenberichte, da die täglichen Lieferscheine und Rechnungen. Laufende und zukünftige Werbung fand sich in diesem Schrank und, und, und … Herr Jentsch erklärte mir die tägliche Kassenabrechnung, die wir dann am Abend nach 18.30 Uhr zusammen durchführten.
Es war fast 20.00 Uhr, als ich zusammen mit dem Chef den Markt abschloss und er mir ein Schlüsselbund in die Hand drückte. Morgen früh um 6.00 aufschließen, er kommt dann nach dem Frühstück, um mir die weiteren Dinge zu erklären.
Ich war froh, als ich mich endlich in den Firmenlieferwagen setzen konnte, um zu meiner Wohnung zu fahren. Und ich habe wirklich gut geschlafen!
Im Gebiet Hannover-Celle wird ja das reinste Hochdeutsch gesprochen, da war es ratsam, den inzwischen gelernten Berliner Jargon abzulegen. Trotzdem konnte mancher aufgrund desge-R-ollten „R“ meine f‑R-änkische Herkunft erkennen. Ältere Kunden aus der Heide sprachen aber auch noch tiefstes Heidjer Platt. Man lernt nie aus!
Im Markt genoss ich viel Freiheit und konnte entsprechend neue Ideen erfolgreich umsetzen. Mit Herrn Jobst, dem Metzgermeister und dem ganzen Team wurde ein großes Schlachtfestorganisiert. In der Passage der Einkaufszeile verkauften wir in einer Woche einen ganzen Eisenbahnwaggon voll Orangen. Ein 10-Liter Eimer, gefüllt mit so viel Orangen wie möglich, für nur fünf DM! An der Bushaltestelle vor der Tür standen die Kunden mit jeweils einem Eimer links und rechts an. Und manche Landwirte kamen mit Trecker und Anhänger an, um das halbe Heidedorf zu versorgen. Durch die auffällige Zeitungswerbung konnten wir viele neue Kunden erreichen und gewinnen. Die Umsätze stiegen deutlich an, der Chef war recht zufrieden und immer seltener im Markt zu sehen. Plante er schon zu dieser Zeit den neuen Markt mit mehr als 1 000 m² Verkaufsfläche wenige Kilometer entfernt an der Kreuzung zweier Bundesstraßen?
Auch privat ging es aufwärts. Durch Telefonate ins Schwabenland konnte ich die alte Brieffreundschaft aus dem Jahr 1967 wieder beleben. Maria bekam Lust, zu mir nach Celle zukommen und bewarb sich im dortigen Krankenhaus. Der Chefarzt der Strahlentherapie suchte eine Sekretärin und so startete sie ab April mit der neuen Aufgabe. Das Zimmer im Schwesternwohnheim war praktisch, aber selten benutzt. Die Arbeit in der neuen Klinik war schon ziemlich stressfrei, oft war auch schon nach der Mittagspause Feierabend. Mit so viel Freizeit wollte Maria auf Dauer nicht leben und suchte sich eine zweite Aufgabe. Bei dem EDEKA-Kollegen Dittel gleich beim Krankenhaus konnte sie am Nachmittag dann für ein paar Stunden an der Käsetheke aushelfen und etwas dazuverdienen. So kam die Zeit, wo wir gemeinsam über ein eigenes Auto nachdachten, selbstverständlich was Gebrauchtes. Von einer Mitarbeiterin erfuhr ich, dass ihr Nachbar, ein Oberlandesgerichtspräsident a. D. kurz nach seinem 75. Geburtstag sein Auto verkaufen wolle. Bei einem Besuch am nächsten Tag wurden wir uns schnell handelseinig. Der Ford P3, auch Badewanne genannt, hatte schon 10 Jahre und gut 70 000 km hinter sich, war werkstattgepflegt und hatte noch überein Jahr TÜV. Da war der Preis von 700 DM akzeptabel. Zu dieser Zeit hätte einer der neuen Taschenrechner, so groß wie zwei Zigarettenschachteln, aber mit vier Grundrechenarten(!) noch 1 200 DM gekostet.
Schon am nächsten Wochenende, den Samstag hatte ich frei, fuhren wir gemeinsam mit dem Auto nach Lohr. Maria konnte sich dabei erstmals bei meiner Familie vorstellen.
Im Fernsehen gab es nicht nur die reale Welt, beim WDR wurde ab 1971 die aus den USA kommende Sesamstraße zum ersten Mal gezeigt. Junge Frauen zeigten sich freizügig in ihren Hotpants. Und viele bunte „Pril“-Blumen zeigten sich in der Küche auf Fliesen, Tassen und Kühlschranktüren.
Auch wir zeigten in unserem Markt, welche Produkte der Saison direkt aus der Nachbarschaft in Superfrische zu Superpreisen angeboten werden. Lecker Spargel, gefolgt von den aromatischen Erdbeeren, jeden Morgen frisch vom Bauern geholt. Das sprach sich bald herum und sorgte für kräftigen Zuspruch und neue Kunden. Knackige Radieschen, Kohlrabi und Blumenkohl taufrisch aus der Heide waren die beste Werbung. Herr Jobst steuerte dazu die passenden Produkte aus der Metzgerei bei, auch der Bäcker und der Drogist aus der Einkaufszeile warben für ihre Produkte mit uns zusammen. So entwickelte sich der Umsatz deutlich nach oben. Und der Chef strahlte, wenn er auch immer seltener zu sehen war. Auch am Sonntag ging ich manchmal für einige Stunden in den Markt, um z. B. in Ruhe die Plakate für die nächste Wochenwerbung zuschreiben. Maria nutzte dabei die Zeit, um mal ein Regal zu ordnen oder die Haltbarkeitskontrolle zumachen. Dabei konnte sie vieles im Sortiment kennenlernen.
Hans-Jürgen, der Zimmerkamerad aus der Berliner Zeit, war seit April wieder nach dem Ausbildungsende nach Celle zurückgekehrt und arbeitete in seinem früheren Markt. In der freien Zeit konnten wir zusammen mit seiner Freundin (und heutigen Frau) Heide vieles gemeinsam unternehmen und die Umgebung kennenlernen. Und der Butterkuchen bei seiner Mutter schmeckte immer besonders gut. Immer wieder trafen wir uns auch beim Großhandelslager oder Obstlager der EDEKA Celle, wo man schnell mal kurzfristig Nachschub holen konnte. Zu dieser Zeit gab es immerhin noch 106 regionale EDEKA-Genossenschaften mit ca.31 700 Kaufleuten. Heute versorgen die sieben Regionalgesellschaften die 3 800 selbstständigen Edekaner mit ihren insgesamt 5.800 Märkten in ganz Deutschland. Mein Chef, der als Aufsichtsrat der EDEKA Celle auch einen Wissensvorsprung hatte, dachte schon sehr bald über weitere Expansionen nach. Einen neuen und mit mehr als 1.000m² großen Markt wollte er in der Nähe in verkehrsgünstiger Lage bauen und ich sollte dort Marktleiter werden. Nur eine Baugenehmigung zu erreichen, erwies sich als extrem schwierig. Letztlich ist der Markt an diesem Standort nie gebaut worden.
Maria und ich fühlten uns in Celle rundum wohl und die Freizeit wurde intensiv mit den neuen Freunden genutzt. Private Feten, Schützenfeste auf den Dörfern oder Spritztouren mit dem Auto und mehr sorgten für Abwechslung.
Auch im Markt sorgten wir für Abwechslung. An einem langen Wochenende haben wir in Tag- und Nachtarbeit fast den ganzen Laden auf den Kopf gestellt und umgebaut. Ganze Regale wurden verschoben und die Obstabteilung um die Hälfte vergrößert. Unterstützt haben uns dabei auch Maria, Hans-Jürgen mit seiner Heide und einige Freunde aus unserer Clique. Am Montagmorgen staunten die Kunden, als sie das deutlich größere Angebot in der Obstabteilung überraschte.
Eine ganz andere Überraschung lag Ende Oktober in meinem Briefkasten. In dem Schreiben lud das Kreiswehrersatzamt Celle mich für den 10. November zur Musterung ein. Ich und Musterung, das war wohl ein Scherz. Schließlich hatte ich einen Berliner Personalausweis und war mit Erstwohnsitz bei einem Berliner Polizisten gemeldet. Also habe ich mit dem Kreiswehrersatzamt telefoniert, um den Termin abzusagen. Da hat mir der Dienststellenleiter sehr unmissverständlich klargemacht, dass ich zum angegebenen Termin zu erscheinen habe, andernfalls würde die Militärpolizei mich abholen. Die Befragung und ärztliche Untersuchung ergab: tauglich für alle Waffengattungen außer Luftwaffe. Der Einwand, dass ich Waffengegner sei, interessierte niemand. Eine Woche später kam der Einberufungsbescheid zum zweiten Januar 1972 nach Hardheim in „Badisch Sibirien“ zur Grundausbildung. Für mich brach eine Welt zusammen, alle Pläne lösten sich in Luft auf.
Da erinnerte ich mich an den Verkäufer meines Autos, den Oberlandesgerichtspräsidenten a. D. Ich rief ihn an und bat ihn, mich zu unterstützen. Es konnte aus meiner Überzeugung nicht sein, dass ein Berliner Bürger zum Wehrdienst verpflichtet werden kann. Er war gleicher Meinung und versprach, sich darum zu kümmern. Zwei Tage später rief er zurück und nannte mir einen Termin im Kreiswehrersatzamt, zu dem er mich begleiten wollte. Dort wurde uns überdeutlich erklärt, dass bis zum 21. Geburtstag der Wohnsitz der Eltern maßgeblich ist, selbst wenn man dort weder wohnt noch gemeldet ist. Das war selbst meinem juristischen Begleiter so nicht bekannt. Jetzt wurde mir klar, dass der Staat den letztmöglichen Termin nutzte, um michnoch vor meinem 21. Geburtstag zumSoldaten zu machen. Ein VerfahrenChronik XVIII als Kriegsdienstver-weigerer wäre aufgrundder Kurzfristigkeitzwecklos gewesen. Soergab ich mich mei-nem Schicksal undbereitete mich vor,zukünftig Sicher-heit fürs Volk zuproduzieren.
Das Jahr 1972 sollte einiges an Veränderungen bringen. Am Abend des 2. Januar rückte ich in der Kaserne zum Dienstantritt ein. Tage später musste ich – unter Protest – das Gewehr in Empfang nehmen. Meine Antwort war: Man könne mich zwingen, die Waffe zutragen, aber nicht damit zu schießen, da ich Waffengegner sei. Dazu gab es keinen Beifall. Keinen Beifall wert war auch die nato-olive und filz ähnliche Winteruniform mit Stahlhelm, der nur ungenügend die langen Haare mit Haarnetz abdeckte.
Maria wollte nicht länger allein in Celle bleiben. Nachdem klar war, dass ich nach der Grundausbildung zum Sanitätsbataillon nach Bad Mergentheim versetzt werde, suchte sie sich dort eine passende Stelle in einer Kurklinik. Das Ein-Zimmer-Appartement im Haus nebenan war schnell gefunden und der Umzug dorthin kurz vor unserer Hochzeit an Ostern war ohne großen Aufwand zu bewältigen. Zuvor hatten auch Heide und Hans-Jürgen geheiratet, um sich kurze Zeit danach in Ilsede (Kreis Peine) mit einem EDEKA-Markt selbstständig zu machen.
In Bad Mergentheim musste ich umgehend mit der Ausbildung zum LKW-Führerschein anfangen, da mehr Fahrzeuge als Fahrer verfügbar waren. Wirklich Spaß hatte ich dabei nicht, aber dem Fahrlehrer bei der Prüfungsfahrt durch eine Notbremsung viel Ärger erspart. Gleich danach wurde ich für 6 Wochen zum Sanitätslehrgang nach Veitshöchheim geschickt. Der Lehrgangsarzt war mit 33 Jahren als Dozent und Leiter des pathologischen Instituts der Uni Würzburg selbst noch zum Grundwehrdienst eingezogen worden und nicht wirklich davon begeistert. Ich war selbst schon seit 3 Jahren als Ausbilder beim Roten Kreuz tätig und konnte mir den Lernstoff daher leicht erarbeiten. Nach einer sehr guten Prüfung hat sich Dr. Heine in der Kompanie intensiv dafür eingesetzt, dass ich auch den Sanitätslehrgang II besuchen konnte, den ich nach weiteren 6 Wochen als Lehrgangs bester abschloss. Dadurch stand mir nach irgendeiner Dienstverordnung zu, eine Praxisausbildung zu absolvieren. Ob im Sanitätsbereich einer Kaserne, im Bundeswehrkrankenhaus oder im Zivilkrankenhaus, das sollte ich mir mal überlegen. Die Entscheidung fiel prompt gegen die Bundeswehr und für das Zivilkrankenhaus.
Dr. Heine kannte den Chefarzt des Kreiskrankenhauses Bad Mergentheimrecht gut, so konnte ich mich schon eine Woche später dort vorstellen. Für 5 Wochen durfte ich auf der chirurgischen Männerstation mithelfen. Dank einer hochprofessionellen und menschlich tollen Stationsleiterin konnte ich extrem viel lernen. So wurden auf Antrag des Krankenhauses noch zweimal zwei Wochen Verlängerung genehmigt. Bei einigen Operationen durfte ich im OP dabei sein, so z. B. bei künstlichen Hüftgelenken oder komplizierten Frakturen. Es war eine intensive und sehr wichtige Zeit, die viel vom Frust durch den Wehrdienst ausgleichen konnte.
Da ich zu den ersten „W15“ zählte, also nur noch 15 Monate Wehrdienst zu leisten hatte, war mit dem „Bergfest“ die zweite Hälfte des wenig geliebten Zeitabschnittes erreicht. Mein Vater hatte wegen gesundheitlicher Probleme einen Antrag auf Dienstbefreiung gestellt. So konnte ich für drei Wochen zu Hause in den Geschäften helfen. Dabei eröffnete er mir, dass er nach der Bundeswehrzeit gerne die Firma an mich abgeben würde. Ich war sehr überrascht, aber nicht wirklich davon überzeugt, ob das für Maria und mich der richtige Weg sein sollte. Zwei kleine Läden mit 60 und 70 m², kann das unsere Zukunft sein? Und ist Lohr überhaupt der richtige Platz für uns?
Eine ganze Weile haben wir überlegt und die Eltern haben mächtig Druck gemacht. Für uns kam nur die eine Alternative in Frage: Neubau eines größeren Marktes und die Schließung der beiden kleinen Läden. Die Einwohnerzahl in der Lindig-Siedlung war durch viele Neubauten auf mehr als 2 000 gestiegen, sodass die Standortanalyse positiv ausfiel. Die Stadt Lohr und das Landratsamt begrüßten unser Vorhaben. Auch Maria und ich haben uns nach intensiver Bedenkzeit dafür entschieden.
Auf dem Grundstück am zweiten Laden war genügend Platz für einen neuen Markt, wenn der Garten und die Garagen geopfert würden. Der Architekt brachte bei der Vorplanung einen Markt mit ca. 300m² heraus, wenn das Lager in den Keller kommt. Das war für uns passend und wir gingen mit großem Eifer an die Detailplanung. Der Zeitpunkt für die Eröffnung des neuen Marktes war ganz sportlich für den Sommer 1973 angedacht.
Sportlich war die Welt ab August zu Gast bei den Olympischen Sommerspielen in München. Spitzenleistungen wie z. B. des amerikanischen Schwimmers Mark Spitz, der allein sieben Goldmedaillen holte, waren im Fernsehen zu bestaunen. Leider aber auch der Überfall palästinensischer Terroristen, die elf Israelis als Geiseln nahmen und später ermordeten. Nach einem Trauertag wurden die Spiele fortgesetzt, Willi Daume begründete diese Entscheidung mit dem Satz: „Es ist schon so viel gemordet worden – wir wollen den Terroristen nicht erlauben, auch noch die Spiele zu ermorden.“ In gleicher Weise sprach der IOC-Präsident Avery Brundage den historischen Satz „The Games must go on.“
Das „Spiel“ um die Baugenehmigung für den Markt erwies sich als schwierig, weil die geforderten Parkplätze so nicht geschaffen werden konnten. Bis ich mich erinnerte, wie die Lösung bei dem Markt in Celle ausgesehen hatte …
Der Kreisbaumeister des Landratsamtes wohnte in der Lindig-Siedlung und zählte zu unseren Kunden. Ihn anzusprechen und von einer praktikablen Lösung für die Parkplätze zu überzeugen, könnte der Weg sein, auch den kritischen Stadtrat zu bewegen. Dieser hatte die Bauanfrage vom Oktober 1972 negativ beantwortet, weil für ihn die Stellplatzfrage nicht befriedigend gelöst war.
Bei einem Ortstermin konnten wir dem Kreisbaumeister die Lösung vorstellen, die sich beim Markt in Celle als praktisch erwiesen hatte. Ein Parkstreifen, parallel zum Verlauf der Straße und auf gleichem Niveau in der Breite von 2,50 m statt des öffentlichen Gehsteigs. Dieser wird auf dem privaten Grundstück auf unsere Kosten wieder zur Verfügung gestellt. Somit ist eine Behinderung oder Gefährdung der Fußgänger durch Fahrzeuge ausgeschlossen. Dieser Vorschlag war bisher nicht bekannt und löste intensive Diskussionen aus. Schließlich konnte mithilfe des überzeugten Kreisbaumeisters die Baugenehmigung nach mehreren Monaten erreicht werden. Der Nutzungstausch wurde vertraglich mit der Stadt Lohr abgesichert. Jetzt konnte mit der Planung und Suche nach einem Bauunternehmen begonnen werden.
Unser „Kampf“ im Kleinen mit der Baugenehmigung war parallel begleitet vom großen Kampf der politischen und ideologischen Gegner dieser Welt. Quasi als Stellvertreterkrieg Kommunismus gegen Kapitalismus wurde aus einem Bürgerkrieg der unmenschliche Vietnamkrieg. Jetzt zeichnete sich nach fast 20 Jahren, drei bis fünf Millionen Toten und fast 60 000 gefallenen US-Soldaten ein Ende dieses Krieges ab. Im Januar 1973 wurde das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, bis Ende März waren alle US-Soldaten aus Vietnam abgezogen.
Auch für den Chronisten ging gleichzeitig die Wehrdienstzeit zu Ende. Entlassen als San Soldat, der zweimal die Beförderung abgelehnt hatte. Jetzt galt es, mit voller Kraft den Bau des Marktes voranzutreiben. Ein örtlicher Bauunternehmer war bald gefunden, der Abriss, der auf dem Grundstück stehen den Garagen konnte beginnen und ab Ende August hob der Bagger den Keller aus. Mit viel Elan und Druck ging es sichtbar voran, auch weil ich fast ständig auf der Baustelle anwesend war und die jeweiligen Gewerke im Ablauf koordinierte, sodass kein Leerlauf entstand. Nicht immer hat‘s die Bauleute gefreut, aber die Kiste Freibier war doch willkommen. Die große Frage war jetzt: Wann kann die Eröffnung des Marktes sein?
Jetzt wurde es Zeit, den Eröffnungstermin zu planen. Klar ist, vor Weihnachten wird es nichts mehr. Die Regale und Kühlmöbel waren schon bestellt, aber jetzt waren neben den Mitarbeitern aus den beiden kleinen Läden noch weitere einzustellen. Ein Metzgergeselle, die Fleischverkäuferin und eine Drogistin mussten gefunden werden. Maria, die Chefin, ging für vier Wochen ins Zentralbüro der Firma Hinke nach Berlin, um dort die Filialbuchhaltung zu erlernen. In Deutschland mussten alle aber auch jetzt lernen, wie abhängig die Wirtschaft vom Öl ist. Die OPEC drosselte die Fördermengen, um Druck auf die USA und Europa auszuüben. Der Preis für Heizöl stieg auf das Sechsfache, auch der Benzinpreis verdoppelte sich. Ende November erließ die Bundesregierung ein an vier aufeinanderfolgenden Sonntagen gültiges Fahrverbot. So konnte man auf der Autobahn Rollschuh laufen, mit dem Fahrrad oder mit der Pferdekutsche fahren. Oder einfach zur gemeinsamen Wanderung aufbrechen. Auf der Baustelle ging es mit großen Schritten voran. Das Flachdach war rechtzeitig vor dem ersten Wintereinbruch dicht, die Deckenisolierung aus Glaswolle habe ich mit einem Freund in Nachtarbeit selbst verarbeitet. Viele Handwerker arbeiteten gleichzeitig auf der Baustelle, um den für den 17. Januar1974 festgelegten Eröffnungstermin zu schaffen. Noch bevor die Heizung lief, musste mit den Fliesenarbeiten begonnen werden – ein echtes Pokerspiel, das aber gut ausging. Rechtzeitig vor den Weihnachtstagen wurden die Kühlmöbel eingebaut und der Probelauf für die Kältemaschinen war erfolgreich. Jetzt fehlten nur noch die Regale für das Sortiment und die Drogerieabteilung, die dann in den ersten Januartagen aufgebaut wurden. Denn ab dem 7. Januar rollte die Ware an und musste in die Regale geräumt werden. Schwierig waren die Gespräche mit den Lieferanten für die Drogerieabteilung. Viele taten sich schwer, die Abteilung in einem Lebensmittelmarkt als Fachdrogerie anzuerkennen. So z. B. die Firma Mühlens (4711), die uns erst mal nicht beliefern wollte. Aber nicht wirklich verwunderlich, da die„Repräsentanten“ teilweise noch mit Chauffeur unterwegs waren. Auch im Bereich der Kosmetik gab es einige Absagen, sicher auch auf Druck von „Kollegen“ am Ort. Letztlich konnten wir mit einem attraktiven Sortiment starten, auch sorgte die im Drogerieshop integrierte L o t t o — A n n a h m e ‑stelle für gute Frequenz. Lange und intensive Tage waren es, und der 17. Januar rückte immer näher.
Die Neueröffnung war gut gelaufen, jetzt konnten alle Mitarbeiter, aber auch wir erst mal durchatmen. Der Sturm war vorbei, die „normale“ Zeit begann. Aber was ist normal? Das zum großen Teil neue Team musste jetzt erst mal zusammenwachsen. Jeder hatte auch neue Tätigkeiten zu lernen. Der Metzger musste nicht schlachten, dafür galt es die Kunden zu bedienen. Die Fleischverkäuferin wurde von der Chefin auch an der Käsetheke eingearbeitet, durfte aber auch Brot und Backwaren verkaufen. Und die Drogistin lernte die Besonderheiten der Lotto-Annahmestelle kennen.
Waren es doch die besseren Zeiten? Immerhin war der Laden Mittwoch- und Samstagmittag ab 12:30 Uhr geschlossen, Mittagspause war von 12:30 bis 14 Uhr. So konnte „man“ die Freizeit in der Schlaghose und auf Plateauschuhen zur Musik von Abba auch genießen. Im Fernsehen verbog Uri Geller bei der Show mit Wim Thoelke Gabeln und Messer, auch zu Hause wurde das – telepathisch unterstützt – von den Zuschauern probiert. Die aktuelle Tagesschau berichtete über den Watergate-Skandal um den US-Präsidenten Nixon und in Wolfsburg lief der erste VW Golf vom Band. Gerne hat man den dann mit einer neuen Polaroid- Kamera fotografiert und Sekunden später das Bild betrachtet.
Im Markt gingen die Umsätze dank zufriedener Kunden stetig nach oben. Als ein wichtiger Magnet wirkte dabei die Fleischabteilung, die stark frequentiert war. So gab es bald Bedarf für weitere Mitarbeiter, die wir auch fanden. Auch in der Obst- und Gemüseabteilung ging es gut voran, obwohl es in der Siedlung viele Selbstversorger mit eigenem Garten gab. In der Drogerieabteilung war gut zu tun, schließlich gab es noch keine Drogeriemärkte wie Schlecker oder dm.
Das Umfeld zeigte sich jedoch weniger freundlich. Ausgelöst durch die Ölkrise 1973 bricht die Konjunktur in Deutschland ein. In vielen Industriebereichen drohen Kurzarbeit und Entlassungen. Waren es im Januar 1974 noch 2,7 % = 620 Tausend Arbeitslose, sind es ein Jahr später schon 5 % = 1,15 Mio. Die Infla-
tionsrate steigt auf 6,9 %, die Sollzinsen auf über 14 %, was auch uns hart trifft. Im Mai 1974 übernimmt Helmut Schmidt das Amt des Bundes-kanzlers von Willy Brandt, der wegen der Guillaume-Affäre zurücktritt. Kein leichter Job!
Auch wir krempelten die Ärmel ganz weit nach oben. Mit mehr als einer halben Million DM Schulden waren wir zum Erfolg verdammt. Da rief auch schon mal der Bankdirektor an, ob denn die nächste Tilgungsrate bedient wird. Obwohl er ja den aktuellen Kontostand kannte, nicht nur weil seine eigene Filiale seit April 74 in den „alten“ Laden ums Eck eingezogen war. So waren Arbeitstage mit 13 bis 14 Stunden keine Ausnahme, nur am Sonntag blieben ein paar Stunden Freizeit.
Zwischen Neujahr und Dreikönig hatten die Mitarbeiter nur teilweise frei, schließlich war der „kleine“ Laden noch weiter geöffnet. Während in allen Ecken noch verschiedene Handwerker tätig waren, rollte ab Montag, den 7. Januar die Ware an und musste jetzt in die Regale geräumt werden. Unterstützung gab es dazu auch durch Mitarbeiter aus der EDEKA-Zentrale und Freunde der Familie. Bis in die Nachtstunden wurden die Waren ausgezeichnet und vor die Regale gesetzt. Das EDEKA-Einrichtungsteam „spiegelte“ das Sortiment im Regal. Danach konnten die Helfer fertig einräumen. Wenn es so weit war, wurde das Regal mit einer Folie zugehängt, damit nicht gleich wieder alles staubig wurde.
Es ging zu wie im Taubenschlag. Überall noch Handwerker, der Elektriker musste immer wieder abschalten, sodass öfter auch fast im Dunkeln gearbeitet wurde. Die Schreiner sägten und hobelten an den Verblendungen und Deko-Elementen, bauten die Obstabteilung fertig auf und halfen mit ihrer Tatkraft und Erfahrung an allen Ecken. Der Seniorchef und die langjährige Mitarbeiterin Edda K. waren die ruhenden Pole und haben durch ihre Routine den Überblick behalten. Die neuen Mitarbeiter, aber auch die neue Chefin, mussten ja in die Aufgaben eingearbeitet werden. Unterbrochen wurde die Hektik nur, wenn die Seniorchefin das Mittagessen für alle brachte. Dann ruhte die Baustelle für eine halbe Stunde.
Ruhe und Entspannung gab es aber am Wochenende auch nicht. Da waren Bestellungen für die Frischwaren zu machen, die erst zum Schluss geliefert und eingeräumt wurden. In der Drogerieabteilung waren die Glasböden der Regale derart verstaubt, dass sie vor dem Einräumen erst mal noch gründlich geputzt werden mussten. Leider fehlte uns zum Start noch eine ganze Reihe von Kosmetikartikeln, die zugesagt, aber nicht rechtzeitig geliefert wurden.
Auch die Rede für die Eröffnungsfeier am Vorabend war noch nicht geschrieben. Wer hatte sich von den eingeladenen Gästen angemeldet und wer fehlte noch oder hatte sich entschuldigt? Schließlich sollte niemand bei der Ansprache vergessen werden.
Am Montag und Dienstag ging es dann mit Volldampf in die letzte Runde. Die Molkerei- und Tiefkühlprodukte wurden eingeräumt, für die Metzgerei war die erste Wurstlieferung schon da. Am Mittwoch wurde das Fleisch und teilweise das Obst und Gemüse geliefert. Auch für den Drogerieshop kamen laufend neue Pakete an. Noch sah alles nach großem Chaos aus.
Für 19:00 Uhr waren die Gäste zur Eröffnungsfeier geladen. Die Häppchen waren gerichtet, der Sekt kalt gestellt. Jetzt noch alle schnell umziehen, während die Putzfrau alles noch mal sauber machte.
Pünktlich kamen die Gäste an. Herr Direktor Reinelt mit Gattin von der EDEKA Würzburg, der Bauunternehmer, der Pfarrer und der Leiter des Veterinäramts, der Vorsitzende des Einzelhandelsverbands und weitere Gäste wurden durch die Familie Engelhard mit einem Glas Sekt empfangen. Nach einer kurzen Rede zeigte der Chronist den Ehrengästen die verschiedenen Abteilungen des Marktes. In Bedienung gab es Fleisch, Wurst, Käse und Backwaren. Im Drogerieshop (mit Lotto–Annahmestelle) freute sich die Drogistin darauf, die Kunden zu beraten. Und nach der gut bestückten Obstabteilung wartete an der Kasse noch Edda K., unsere langjährige Mitarbeiterin, die fast jeden Kunden mit Namen und der
Familiengeschichte kannte.
Mit großem Staunen hörten die Gäste, dass seit dem Abriss der Garagen bis zu diesem Eröffnungstag gerade mal fünf Monate vergangen waren. Das war schon eine Superleistung aller am Bau und Ausbau beteiligten Firmen, wofür es auch ein extra Danke schön gab.
Die Party war vorbei, alle Gäste wieder auf dem Heimweg, und wir waren ziemlich müde, aber auch zufrieden. Gerade wollten wir den Markt durch den Hintereingang verlassen, da hörte ich ein starkes, knackendes Geräusch aus der Fleischabteilung. Schnell erkannte ich, es kommt aus dem Kühlhaus. Beim Öffnen der Türe war der Schreck riesengroß. Das ganze Gehänge mit dem daran aufgehängten Fleisch kam mir wie in Zeitlupe entgegen. Immerhin siebzig Stränge Kotelett, jeder acht bis zwölf Kilogramm schwer, waren wohl für die Ankerdübel zu viel. Jetzt musste es schnell gehen. Ich stemmte mich mit aller Kraft gegen das Gestänge und Maria, meine Frau im feinen Kostüm, holte eine große Plastikfolie und legte Strang für Strang die Koteletts darauf ab. Mehr Sport ging nicht!
Nach einer kurzen Nacht waren alle wieder ab sechs Uhr im Einsatz. Alle Vorbereitungen mussten bis neun Uhr abgeschlossen sein, damit wir unsere Kunden empfangen konnten. Der Ansturm war groß, die Zufriedenheit auch, und der Eröffnungstag lief ohne weitere Störungen mit gutem Erfolg ab. Immerhin 1137 Kunden, viele auch noch mit Begleitung, sorgten an diesem Tag für mehr als 20 000 DM Umsatz.
Die Neueröffnung war gut gelaufen, jetzt konnten alle Mitarbeiter, aber auch wir erst mal durchatmen. Der Sturm war vorbei, die „normale“ Zeit begann. Aber was ist normal? Das zum großen Teil neue Team musste jetzt erst mal zusammenwachsen. Jeder hatte auch neue Tätigkeiten zu lernen. Der Metzger musste nicht schlachten, dafür galt es die Kunden zu bedienen. Die Fleischverkäuferin wurde von der Chefin auch an der Käsetheke eingearbeitet, durfte aber auch Brot und Backwaren verkaufen. Und die Drogistin lernte die Besonderheiten der Lotto-Annahmestelle kennen.
Waren es doch die besseren Zeiten? Immerhin war der Laden Mittwoch- und Samstagmittag ab 12:30 Uhr geschlossen, Mittagspause war von 12:30 bis 14:00 Uhr. So konnte „man“ die Freizeit in der Schlaghose und auf Plateauschuhen zur Musik von Abba auch genießen. Im Fernsehen verbog Uri Geller bei der Show mit Wim Tölke Gabeln und Messer, auch zuhause wurde das – telepathisch unterstützt — von den Zuschauern probiert. Die aktuelle Tagesschau berichtete über den Watergate-Skandal um den US-Präsidenten Nixon und in Wolfsburg lief der erste VW Golf vom Band. Gerne hat man den dann mit einer neuen Polaroidkamera fotografiert und Sekunden später das Bild betrachtet.
Im Markt gingen die Umsätze dank zufriedener Kunden stetig nach oben. Als ein wichtiger Magnet wirkte dabei die Fleischabteilung, die stark frequentiert war. So gab es bald Bedarf für weitere Mitarbeiter, die wir auch fanden. Auch in der Obst- und Gemüseabteilung ging es gut voran, obwohl es in der Siedlung viele Selbstversorger mit eigenem Garten gab. In der Drogerieabteilung war gut zu tun, schließlich gab es noch keine Drogeriemärkte wie Schlecker oder dm.
Das Umfeld zeigte sich jedoch weniger freundlich. Ausgelöst durch die Ölkrise 1973 bricht die Konjunktur in Deutschland ein. In vielen Industriebereichen drohen Kurzarbeit und Entlassungen. Waren es im Januar 1974 noch 2,7% = 620 Tausend Arbeitslose, sind es ein Jahr später schon 5,0% = 1,15 Mio. Die Inflationsrate steigt auf 6,9%, die Sollzinsen auf über 14%, was auch uns hart trifft. Im Mai 1974 übernimmt Helmut Schmidt das Amt des Bundeskanzlers von Willy Brandt, der wegen der Guillaume-Affäre zurücktritt. Kein leichter Job!
Auch wir krempelten die Ärmel ganz weit nach oben. Mit mehr als einer halben Million DM Schulden waren wir zum Erfolg verdammt. Da rief auch schon mal der Bankdirektor an, ob denn die nächste Tilgungsrate bedient wird. Obwohl er ja den aktuellen Kontostand kannte, nicht nur, weil seine eigene Filiale seit April 74 in den „alten“ Laden ums Eck eingezogen war. So waren Arbeitstage mit 13 bis 14 Stunden keine Ausnahme, nur am Sonntag blieben ein paar Stunden Freizeit.
Das erste Jahr ist geschafft, das Team ist eingespielt und die Kunden haben uns fast genau den geplanten Umsatz beschert. Und im Frühjahr wird der Sohn Jörg geboren. Ein fröhliches Kind mit blonden Locken, das natürlich von allen Frauen im Haus verwöhnt wird. Praktischer-weise war das Kinderzimmer nur eine Treppe im Nachbarhaus entfernt, manchmal wurde auch im Personalraum geschlafen. Wenn die Nachbarin ihren Dackel „Gassi“ führte, nahm sie den Nachwuchs gerne im Kinderwagen mit. Dort hatte der Hund zwischen den Rädern einen gepolsterten Korb, wo er bei Müdigkeit die Tour auch verschlief.
Im Frühjahr 1974 beschloss der Bundestag die Volljährigkeit mit 18 Jahren, die dann zum 1.1.1975 in Kraft trat. Alice Schwarzer kämpfte vehement mit der „Frauenbewegung“ um mehr Rechte und Niki Lauda gewann mit Ferrari den Kampf um die Formel 1 Weltmeisterschaft. Auch wir mussten um jeden Kunden kämpfen, es gab in der Siedlung auch noch einen Metzger und eine Bäckereifiliale. Und wegen der anhaltenden weltweiten Rezession mit hohen Arbeitslosenzahlen waren alle besonders sparsam. Das war auch der Anlass, über preiswertere Angebote nachzudenken. Schon 1974 war die Preisbindung für Markenartikel als unzulässig erklärt worden. Viele Produkte wie z. B. Maggi, Suppen und Soßen hatten auf der Verpackung den Preisaufdruck, der später als Preisempfehlung galt.
Als gelernter Drogist kannte ich viele Produkte aus dem Kosmetik- und Gesundheitsbereich, die weiter zu stattlichen Preisen verkauft wurden. Jetzt eröffnete sich die Möglichkeit, durch Einkauf größerer Posten einen Mengenrabatt zu bekommen und das an die Kunden weiterzugeben. Schade, dass bei uns das Geld nicht vorhanden war, um diese Idee zu einem Drogeriemarkt weiterzuentwickeln. Schlecker war zu dieser Zeit noch der Metzgermeister in Ehingen, der dm-Drogeriemarkt war gerade gegründet worden. Also verwöhnten auch wir unsere Kunden mit preisreduzierter Zahnpasta und Deostiften. Auch mit Babynahrung im Sonderangebot ließen sich die Kunden locken.
Auch in der Obstabteilung ließen sich die Kunden immer mehr von exotischen Früchten locken. Pampelmusen – eigentlich waren es Grapefruit – aus Israel, Kaki aus Italien und leckere Trauben aus Jugoslawien. Spanien kam als wichtiges Lieferland erst später dazu, weil im November 1975 durch den Tod von General Franco das Ende der 36-jährigen Diktatur auch einen wirtschaftlichen Aufschwung möglich machte.
Der Aufschwung im eigenen Haus war in diesem Jahr gegenüber dem Eröffnungsjahr mit einem Plus von 9,3% auf den ersten Blick recht erfreulich, wurde aber durch die Inflation mit 5,9% deutlich relativiert.
Auch im neuen Jahr 1976 sollte es nicht langweilig werden. Der tägliche Kampf um jeden Kunden wurde immer härter, weil die Geldbeutel sehr zugeknöpft waren. In den ersten fünf Monaten des Jahres hatten wir die Umsätze des Vorjahres immer knapp nicht erreicht. Und dann eröffnete Ende Mai der neue „HaWeGe“ — Vorgänger der Firma Tegut -, seinen neuen Markt mit ca. 700m² in gut einem Kilometer Entfernung. Er hatte somit die dreifache Größe unseres Marktes und war größter Anbieter in Lohr. Wir zogen mit unseren Mitarbeitern alle Register und verstärkten die Werbung, sodass wir im zweiten Halbjahr die Umsätze zum Vorjahr fast genau halten konnten.
Mitte des Jahres verstarb nach kurzer, schwerer Krankheit die Seniorchefin, sodass der Sohn Jörg „seine Oma“ kaum wirklich erlebt hatte. Ein harter Schlag für die ganze Familie.
In Lohr gab es weitere große Änderungen. Der wichtigste Arbeitgeber und bis vor wenigen Jahren im Besitz der Familie Rexroth wurde jetzt 100%ige Tochter im Mannesmannkonzern. Für manche ein Angstfaktor, aber perspektivisch die Sicherung vieler guter Arbeitsplätze. Auch blieb uns Frau Rexroth, langjährige Stammkundin unseres Hauses auch bis zu ihrem Tod als Kundin treu.
Der Musiker Frank Farian hatte mit der von ihm geschaffenen Gruppe Boney M und dem Song „Daddy Cool“ einen Welthit mit mehr als 1 Million verkauften Singles. Im karibischen Look und gewagten Kostümen traten sie u. a. im „Musikladen“ erfolgreich auf, ohne selbst zu singen.
Nach jahrzehntelanger Diktatur und einer „Kulturrevolution“ verstarb am 9. November der große Mao Tse-Tung. Historiker berichten, dass durch ihn bis zu 70 Millionen Chinesen den Tod durch Folter, Haft und Hunger fanden.
Am letzten Wochenende im September gab es bei uns erstmals einen Herbstmarkt mit Bier und Bratwurst. Dabei wurden neben Äpfeln, Kraut und Rüben auch 300 Sack je 25 kg. Kartoffeln zum Preis von 16,95 DM verkauft.
In den ersten Oktobertagen kamen der Verkaufsleiter und der Finanzvorstand der EDEKA zu uns in den Markt. Ich war recht erschrocken, als sie mir den Markt im Stadtteil Sendelbach zur Übernahme anboten. Schnell müsste ich mich entscheiden, höchstens 48 Stunden Zeit könnten sie mir lassen, bevor sie einem anderen Kollegen den Markt anbieten. Die Gründe, warum der Markt dem Betreiberpaar entzogen werden sollte, waren massive Hygienemängel und Umsatzeinbrüche, daraus folgend der wirtschaftliche Ruin. Jetzt galt es, in der Familie ganz schnell nachzudenken, ob dies kräftemäßig, aber auch finanziell zu schaffen sei.
Die Entscheidung erfahren Sie in der nächsten Chronik.
„Wir schaffen das“ – so war die Meinung der Chefin, des Seniorchefs und der langjährigen Mitarbeiterin Edda K. Wir sollten die Chance nutzen und den Markt in Sendelbach über-nehmen. Also sagten wir zu und ab dann ging alles Schlag auf Schlag.
Am Donnerstag 7.10. war der Markt noch geöffnet, die Kunden und Mitarbeiter wurden informiert, dass Freitag und Samstag wegen Inventur geschlossen und Wiedereröffnung am Montag 11.10. ist. Die Mitarbeiter wurden alle weiter beschäftigt, nicht aber das Betreiberpaar. Bei der Übernahmeinventur wurde eine große Zahl nicht verkaufsfähiger Artikel aussortiert, offene Fleischwaren und Käse waren aus Hygienegründen komplett zu vernichten. Um die Verkaufs- und Arbeitsräume in den lebensmittelrechtlich einwandfreien Zustand zu bringen, war die ganze Mannschaft einen Tag und eine Nacht damit beschäftigt, zu räumen, zu reinigen und zu desinfizieren. Gleichzeitig musste neue Ware bestellt werden, um am Montag wieder verkaufsfähig zu sein.
An diesem Montag wurden Molkereiprodukte und auch die Fleisch- und Wurstwaren wieder frisch angeliefert, das Trockensortiment kam erst am Dienstag. Einige Mitarbeiter aus der Zentrale halfen beim Einräumen, um den Markt wieder halbwegs Verkaufs-bereit zu machen. Neugierige Kunden kamen in überschaubarer Zahl, um zu sehen, ob sich etwas verändert hat. Bei den Einkäufen waren sie jedoch sehr zurückhaltend. Und fast alle fragten, ob das auch noch die gleiche Wurst und das Fleisch wie in der Vorwoche sei. Das ließ uns sehr nachdenklich werden und forderte uns gleichzeitig heraus. Das wirtschaftliche Risiko war nicht zu unterschätzen, daher gründeten wir eine eigene GmbH, um nicht auch noch die junge Einzelfirma im negativen Fall mit in den Abgrund zu reißen.
Sehr schnell wurde klar, die Schwäche des Marktes war der massive Vertrauensverlust in die Fleischabteilung. Daher war es oberste Priorität, die Kunden wieder an die Theke zu holen und zu überzeugen. Also verbrachte ich einen großen Teil meiner Zeit in der Fleischabteilung, um Kunden zu bedienen und Fleisch auszubeinen bzw. zu zerlegen. Viel konnte ich mir von der Fachverkäuferin zeigen lassen, da ich es ja selbst nie gelernt hatte.
Als Ende November die Zahlen auf dem Tisch lagen, waren es gesamt fast 20 % weniger als der Umsatz des anderen Marktes in der Lindigsiedlung, der Anteil der Fleischabteilung war nur gut die Hälfte des Wertes im anderen Markt. Da lagen die Nerven und auch das Bankkonto blank. Wir stellten uns die bange Frage: Wie werden die nächsten Wochen im Dezember und im folgenden Jahr sich entwickeln?
Eigentlich war es so weit, dass ich die „Flinte ins Korn“ werfen wollte. Alle Mühe war vergebens, der Frust riesengroß. Auf Umwegen und durch eine Empfehlung kam ich mit einem EDEKA-Kollegen in Kontakt, der 20 km weiter einen Markt hatte und gelernter Metzgermeister war. Er besuchte mich, gab mir wichtige Tipps und bestärkte mich, auf jeden Fall weiterzumachen. Auch empfahl er mir eine Landmetzgerei in der Region, deren leckere Wurst ich ab sofort im Sortiment verkaufte. Schnell sprach sich das bei den Kunden herum und brachte viel vom verlorenen Vertrauen zurück. Als dann noch Erich, der Geselle aus der Landmetzgerei nach seinem Dienst bei mir half, die Fleischteile auszubeinen und sauber zuzuschneiden, konnte ich mich mehr um den Verkauf und die Kunden kümmern. Das war vor den Feiertagen besonders wichtig. Schließlich galt es, möglichst viele der enttäuschten Kunden wiederzugewinnen.
Auch sonst war viel los in dieser Zeit. Jimmy Carter wurde zum 39. Präsidenten der USA vereidigt, Bernhard Vogel zum Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz. In Mainz wird der „Weiße Ring e. V.“ gegründet, Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert. Die Eagles bringen mit „Hotel California“ eines der weltweit meistverkauften Alben heraus. Und Richard Oetker wurde am 14. 12. entführt und zwei Tage später gegen 21 Mio. Lösegeld freigelassen.
Der Januar 1977 ließ sich erst mal noch recht zäh an, aber immerhin ging die Kundenzahl an der Fleischtheke langsam, aber stetig nach oben. Jetzt galt es, im Markt das Sortiment genau zu analysieren und zu aktualisieren. Regale wurden umgeräumt und neu geordnet.
Als die Zahlen des Monats März gerechnet waren, war es am Horizont schon deutlich heller geworden. Im Vergleich zum Januar stieg der Umsatz um 25%, die Kundenzahl um 27% und der Umsatz der Fleischabteilung war um 36% angestiegen, beide Märkte lagen jetzt gleichauf. Das gab neuen Mut und spornte alle an, noch mehr um die Kunden zu werben. Schon zur Jahresmitte zeigten die Zahlen des Juni gegenüber dem Januar eine Steigerung von 50%, an der Fleischtheke ein Plus von 72%. Wir waren wohl auf dem richtigen Weg und hatten den Markt in der Lindigsiedlung schon überholt. Dieser stand auch unter starkem Druck durch den HaWeGe-Markt, der vor einem Jahr eröffnet hatte. Also verstärkten wir unsere Werbung durch Handzettel, besonders mit Fleisch- und Wurstartikeln. Auch personell konnten wir uns mit einem jungen Metzgergesellen verstärken. Dadurch hatte der Chef wieder mehr Zeit für den gesamten Betrieb.
Offensichtlich waren wir auf dem richtigen Weg, ab Mitte des Jahres 1977 schien der „Knoten gelöst“. Die Zahl zufriedener Kunden stieg kontinuierlich und damit auch die Umsätze. So waren im Dezember 90% mehr in der Kasse als im Januar davor. Und schon gab es die ersten Gedanken, den Laden umzubauen und eine Käsetheke zu installieren. Dafür müsste das Büro verlegt und ein Durchbruch zur Fleischtheke geschaffen werden, damit von dort mitbedient werden konnte. Am 27. Juli 1978 war‘s dann so weit und die Kunden waren mit dem neuen Angebot sehr zufrieden. Als zum Jahresende die Zahlen addiert wurden, waren es immerhin 26,5% mehr Umsatz.
Nicht ganz zufrieden waren wir mit der Entwicklung im Markt in Lindig. Die größere Konkurrenz des HaWeGe-Marktes ließ unsere Entwicklung deutlich kleiner ausfallen.
Waren es in 1977 noch 10,4% plus, gab es im Folgejahr 1978 nur noch 8,1% mehr Umsatz.
Für unruhige Zeiten in Deutschland sorgten die schrecklichen Taten der terroristischen RAF mit den Morden an Generalbundesanwalt Buback, dem Bänker Ponto und dem Arbeitgeberpräsident Schleyer. Um die Freilassung von elf gefangenen RAF-Mitgliedern zu erpressen, wurde die Lufthansamaschine „Landshut“ nach Mogadischu in Somalia entführt und der Pilot ermordet. Die GSG9 stürmte das Flug-zeug und befreite alle Geiseln. Im Gefängnis Stammheim begingen darauf hin drei RAF-Terroristen Selbstmord.
Der Tod von Elvis Presley löste weltweit große Trauer aus, ABBA und Boney M stürmten die Charts und die Queen feierte ihr 25. Thronjubiläum. Pelé beendet seine Fußballkarriere, der 1. Star Wars Film kommt in die Kinos und Benzin kostet 0,88DM.
Ein Pack Butter gibt’s für 2,35, das Kg Mehl für 1,22 und Kaffee kostet 14,99DM je Pfund. Die Arbeitslosenquote liegt immer noch bei 4,5%
Unser Sohn Jörg hat den Kinderwagen zur Seite geschoben und ist aufs Dreirad um-gestiegen. Und Mitte 1978 beginnt die spannende Kindergartenzeit, wo die große Neugierde auch noch von anderen gestillt wurde.
Die Öffnungszeit des Kindergartens war nicht wirklich kompatibel mit den Arbeitszeiten im Laden. Die Kinder mussten bis 11:30 abgeholt sein, Mittagspause war bis 13:30 und um 17:00 Uhr war dann Schluss. Aber auch die Öffnungszeit im Laden war überschaubar. Frühmorgens ging es um 8:00 los, Mittagspause von 12:30 bis 14:00, um 18:00 Uhr war dann Feierabend. Und samstags wurde der Schlüssel um 12:00 Uhr umgedreht.
Das waren noch Zeiten …
Das neue Jahr 1979 fing gar nicht gut an. Inden letzten Dezembertagen, im Januar und bis in den Februar hinein gab es den „Jahrhundertwinter“. Innerhalb von 6 Wochen fegten zwei extreme Schneestürme vor allem über Norddeutschland hinweg. Meterhohe Verwehungen sorgten dafür, dass viele Dörfer und Gemeinden von der Außenwelt abgeschnitten und ohne Strom waren, weil die Oberleitungen unter der Last des Eises gerissen waren. Schneeräumung war nur mit Panzern und schwerem Gerät möglich. Funkamateure halfen durch Notfunk-betrieb die Hilfskräfte zu koordinieren. Mit der DDR gab es keine gemeinsamen Funkfrequenzen. In Westdeutschland waren mindestens 17 Tote zu beklagen.
Nach Protesten verlässt der Schah Reza Pahlavi den Iran, Ajatollah Khomeini kehrt aus dem Exil zurück und übernimmt die Regierung der islamischen Republik – den „Gottesstaat“.
Im März war quasi die Gründung der Grünen als „Listenbündnis“, eine bunte Mischung aus Umweltschützern, Atomkraftgegnern und Pazifisten. Sie organisierten den „Gorleben-Treck“, eine Protestaktion mit mehr als 50.000 Teilnehmern und Hunderten von Traktoren und zogen zu einer Großkundgebung nach Hannover. Fast zeitgleich wurde der israelisch – ägyptische Friedensvertrag unterzeichnet. Darin war auch der Truppenabzug und die Rückgabe der Sinaihalbinsel im Jahr 1982 festgeschrieben.
Musik „on tour“ gab es jetzt für die Jugend mit dem neuen Walkman von Sony. Nur 14×10cm groß war er für ca. 400 Mark zu haben. Damit konnte jeder die selbst am Radio aufgenommenen Musikkassetten auch unterwegs hören. Dschingis Khan, Boney M und natürlich ABBA stürmen gerade die Hitparade mit Dieter Thomas Heck. Margaret Thatcher gewinnt die Wahl in England, Uli Hoeneß wird Manager des FC Bayern München und der HSV deutscher Meister. Vierzehn DDR-Agenten können durch einen übergelaufenen Stasioffizier enttarnt werden. Die Arbeitslosigkeit sinkt auf 3,8% und Benzin kostet weniger als eine DM.
Im Laden gibt‘s das Paket Butter für 2,50DM, Zucker kostet 1,40 und Mehl 1,25DM je kg. Beide Märkte entwickeln sich in diesem Jahr moderat mit ca. 8% Zuwachs weiter, wobei die Fleischabteilung in Sendelbach stärker zulegen kann. Nicht ganz zufrieden sind wir mit der Entwicklung der Drogerie- (wegen Schlecker) und der Obstabteilung in der Lindig-Siedlung. Also planen wir den Umbau des Marktes. Die Drogerie wird aufgegeben, der Markt an zwei Tagen im November umgebaut und mit deutlich mehr Platz und Auswahl an Obst und Gemüse wiedereröffnet. Dass diese Entscheidung gut und richtig war, zeigen die Zahlen recht schnell.
Nach dem Umbau zeigte sich der „alte“ Markt in der Lindig-Siedlung mit neuem Gesicht und wirkte insgesamt größer. Das Obstregal wurde in U‑Form aufgebaut und war von 3 Seiten zugänglich. Innen stand die Verkäuferin und bediente die Kunden oder füllte Ware nach. Und dazu ein 2,5 m hoher Baum! Ein echter Baumstamm mit Ästen, daran künstliche Blätter und Apfelblüten, die wie echt aussahen – ein echter Hingucker! So konnten wir im Jahr 1980 nicht nur deutlich mehr Obst und Gemüse verkaufen, vielmehr ist der Gesamtumsatz um 15% angestiegen. Das motivierte uns, auch für Sendelbach den Umbau und die Erweiterung der Obstabteilung zu planen. Schließlich konnte dieser Markt mit „nur“ 10% Steigerung mit der Entwicklung in der Lindig-Siedlung nicht mithalten.
Auch die Entwicklungen in der Welt waren recht unterschiedlich. Ökologische und linke Gruppen gründeten die Partei Die Grünen. Sowjetische Truppen waren in Afghanistan ein-marschiert. US-Präsident Carter entscheidet sich daher für den Boykott der olympischen Spiele in Moskau, insgesamt 57 Nationen und auch die BRD schließen sich an. Im Sommer wird in Bremerhaven das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung gegründet. Exakt 40 Jahre später kehrt das Forschungsschiff „Polarstern“ im Herbst 2020 von der ein-jährigen Expedition im arktischen Packeis mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und noch mehr Daten zurück. Für Groß und Klein gab es jetzt Rubik’s Zauberwürfel, Pac–Man war das erste „Computer“-Spiel und Reinhold Messmer bezwang als erster Bergsteiger den Mount Everest im Alleingang ohne Sauerstoff.
Mitte August war wohl der Start für einen großen Wechsel in der Weltpolitik: Auf der Danziger Lenin – Werft wurde unter Führung von Lech Walesa gestreikt. Die Streiks weiteten sich aus und führten wenige Wochen später zur Gründung von Solidarnosc und zum Machtverlust der kommunistischen Partei – nicht nur in Polen. Karol Wojtyla, der mehr als 26 Jahre in Rom auf dem Papstthron saß, soll dabei nicht ganz unbeteiligt gewesen sein.
Bob Marley gab sein letztes Konzert, Ende September das Bombenattentat auf dem Oktoberfest mit 13 Toten und über 200 Verletzten. John Lennon wurde in New York erschossen.
Unser Sohn Jörg machte in den Kindergartenferien „Urlaub auf dem Bauernhof“ bei Oma und Opa in Oberschwaben. Ganz allein – ohne Mama und Papa, Mithilfe im Stall bei den Tieren und „selbst Traktor fahren“ mit Opa auf der Wiese – so schön ist die Welt!
Veränderungen gibt es in diesem Jahr aber noch einige mehr. Unsere erste Auszubildende startet ab August in ihren Beruf. Um eine geordnete Ausbildung zu gewährleisten, will der Chef die Ausbildereignungsprüfung ablegen. Auf Nachfrage beim Einzelhandelsverband erfährt er, dass diese ca. 300 Stunden Schulung erfordere. Da könne er doch gleich mit nur 200 Stunden mehr den Handelsfachwirt machen, der die Ausbildereignungsprüfung dann beinhaltet. Gesagt, getan, der Start war Anfang September in Aschaffenburg. Zweimal pro Woche abends 3 Stunden ab 18:45 und jeden 2. Samstag 5 Stunden. Das ist ganz schön anspruchsvoll, weil ja auch noch Zeit zum Lernen gefordert war. Also abends nach 18:00 Uhr schnell Kasse abrechnen, abwechselnd mit einem Lohrer Kaufmann flott die 35 km über den Spessart fahren und dann rechtzeitig zum Unterricht ankommen – nicht immer einfach, aber immer unfallfrei!
Das neue Jahr 1981 begann kalt und teils stürmisch, mit viel Schnee. Ja, es war wieder mal ein richtiger Winter, der bis in den Februar andauerte. Da war die Fahrt durch den Spessart zum abendlichen Unterricht in Aschaffenburg durchaus anspruchsvoll. Ebenso anspruchsvoll war der zu bearbeitende Lernstoff aus neun verschiedenen Fächern. Neben Anforderungen der Familie und der beiden Märkte war nur wenig Zeit dafür übrig. So kamen wir auf die Idee, uns am schulfreien Wochenende zu fünft im Wochenendhaus eines Mitschülers in Klausur zu begeben. In der Nähe von Walldürn, also „badisch Sibirien“ gab es dort eine zauberhafte Winterlandschaft, die wir in der Pause zwischen zwei intensiven Lernstunden zur Wanderung oder Schneeballschlacht nutzten. Jeder von uns hatte seine Stärke in einem anderen Fach und war besonders darin vorbereitet, um dann mit den anderen das Thema zu vertiefen. So erreichten wir eine hohe Effizienz beim Lernen des Stoffs.
Der im Herbst 1980 begonnene Golfkrieg zwischen Iran und Irak führte zu einer weltweiten Ölkrise mit einer Verdoppelung des Ölpreises. Die Folge war die Stagnation der Wirtschaft, Produktion und Beschäftigung gingen zurück, Arbeitslosigkeit steigt um 43% auf über 1,7 Millionen Ende 1981, die Lebenshaltung wird um 6% teurer. Auch wir konnten in unseren Märkten die Umsätze nur in Höhe der Preissteigerung erreichen. Also Nullwachstum auf der ganzen Linie.
Im Februar gab es in Brokdorf eine Großdemonstration von ca. 100.000 Atomkraftgegnern, die nicht nur friedlich verlief. Im Wettlauf der Großmächte um den Weltraum wurde im April von den USA der erste Space Shuttle, die Raumfähre Columbia ins All geschickt und kehrte nach der Mission wie ein Flugzeug zur Erde zurück. Mitte Mai wird Papst Johannes Paul II. auf dem Petersplatz durch 3 Schüsse eines Attentäters schwer verletzt.
Im Juni flimmert der erste Tatort Krimi mit Kommissar Schimanski – Götz George – über die Bildschirme und ist auch noch heute ein Dauerbrenner. Für viele war es die allerschönste Hochzeit, die Prince Charles und Lady Diana im Juli feierten.
Jetzt war auch die nicht immer einfache Zeit des Lernens für den Handelsfachwirt vorbei, die Prüfungen standen an. Schriftlich geprüft wurde in allen Fächern, in einigen dann auch noch mündlich. Für die Ausbilder-Eignungsprüfung war auch eine Präsentation zu erstellen, die dann der Prüfungskommission vorzutragen war. Alles ging gut, mit gutem Erfolg bestanden! Nicht nur die bestandene Prüfung, sondern vielmehr die neu gewonnenen Freunde waren das, was auch bis heute noch zählt. So haben wir uns ca. 10 Jahre danach noch monatlich in Aschaffenburg getroffen, um Neuigkeiten auszutauschen. Und nach 25 Jahren – 2006 – haben wir uns für ein Wochenende, zusammen mit den Referenten verabredet. Bis auf ein paar Ausnahmen waren alle dabei und hatten viel zu erzählen!
Auch wenn es 1981 schon im März frühlingshafte und ab Ende Mai sogar schon sommerliche Temperaturen gab, war die allgemeine Stimmung doch eher unterkühlt. Ausgelöst durch die Ölkrise 1980, rutschte Deutschland in eine schwere Rezession. Steigende Preise bei steigender Arbeitslosigkeit, gepaart mit einem Nullwachstum nennen die Ökonomen eine Stagflation. Und dazu noch Kreditzinsen von deutlich mehr als zehn Prozent waren für die Entwicklung pures Gift. Die Kauflaune war daher entsprechend.
Unser Geschäft entwickelte sich auch nur verhalten nach vorne. So konnten wir in beiden Märkten nur fünf bzw. sechs Prozent steigern, was etwa der Teuerungsrate entsprach, lediglich in den Fleischabteilungen beider Märkte konnten wir einiges zu-legen. Sicher war auch die Neueröffnung des NEUKAUF-Marktes mit 700 m² im Mai 1981 in der Innenstadt von Lohr nicht wirklich förderlich für unsere Entwicklung.
Richtig gut entwickelten sich unsere beiden „Nachwuchskräfte“. Für Jörg begann nach den Sommerferien die Schulzeit, die er kaum erwarten konnte. Ralfs intensiver Bewegungsdrang sorgte jetzt dafür, dass in der Wohnung die von ihm erreichbaren Schränke und Schubladen leergeräumt waren. Auffällig war schon jetzt die Vorliebe, sich mit Kochtöpfen und Rührlöffeln zu beschäftigen – ein Hinweis für die Zukunft?
Ja, was wird die Zukunft bringen? In ganz Europa und darüber hinaus entwickelt sich die Friedensbewegung, im Oktober 1981 sind es in Bonn bei einer Friedensdemo rund 300.000 Teilnehmer. Auch in der DDR gibt es diese Entwicklung mit der von dem Pfarrer Rainer Eppelmann geführten Initiative „Frieden schaffen ohne Waffen“. Gar nicht friedlich zeigte sich ab April 1982 der Krieg um die Falklandinseln im Südatlantik. 10 Wochen dauert der Kampf zwischen Großbritannien und Argentinien um die paar wirtschaftlich und strategisch unbedeutenden Felsen 15000 km von London entfernt. 900 Tote und 10000 Soldaten in britischer Gefangenschaft als Sieg zu bezeichnen – na ja, die Materialschlacht endete mit der Kapitulation von Argentinien.
Im Februar 1982 war unser Markt in Lindig für zwei Tage wegen Umbau zu, wir vergrößerten die Tiefkühlung, um dem wachsenden Markt gerecht zu werden. Das war genau richtig, da Anfang Mai der HaWeGe-Markt für 6 Wochen die Türen schloss, um nach Totalumbau als Kontra-Markt zu eröffnen. Es blieb spannend, immerhin gab es in der Lindig-Siedlung noch einen Metzger, einen Milchladen mit Lebensmitteln, eine Bäckereifiliale und zwei Gaststätten. Und wir wollten auch weiterhin ganz vorne dabei sein!
Mittelmaß war nicht unser Anspruch, wir wollten ganz vorne dabei sein! Wegen der anhaltenden schweren Wirtschaftskrise doch ziemlich ambitioniert. Auch in der Politik kriselte es seit einiger Zeit, bis schließlich im September die sozial-liberale Koalition durch ein Misstrauensvotum abgelöst wird, Helmut Kohl wird Regierungschef. Für die neue Regierung sind Einsparungen im Sozialbereich alternativlos und schmerzhaft, die Fronten zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften verhärtet.
Anders als das politische Klima war das Wetter. Schon ab April bis Ende September gab es einen Traumsommer mit viel Sonnenschein, aber auch immer wieder Regen, was uns mit fast 15 Mio. hl die größte Weinernte, aber auch eine ebenso riesige Apfelernte bescherte. Viele gute Ideen und ein tolles Team ließen die Umsätze nach oben klettern, sodass es am Ende fast 15% mehr waren. Einen gehörigen Anteil hatten die Fleischabteilungen, auch der im Herbst in Sendelbach neu begonnene Verkauf von frischem Fisch half, die Kunden noch stärker zu binden.
Zwischendurch gab‘s auch einen Ausflug zu Oma und Opa und der ganzen Familie im Allgäu. Mit dabei natürlich das Surfbrett, um mit dem Schwager den Baggersee zu pflügen. Schließlich hatte ich schon 1976 bei einem Ostseeurlaub bei 16° Wassertemperatur das Surfen gelernt. Ging damals ganz schnell! Schon als Kind war ich dem Wasser sehr verbunden, bei der örtlichen Wasserwacht aktiv und mit 18 Jahren als Ausbilder für Rettungsschwimmer jeden Donnerstag beim Training dabei.
Eines Montags rief mich Peter C., Geschäftsführer des Einzelhandelsverbands in Unterfranken – er war schon als Referent in unserem Handelsfachwirtlehrgang tätig – an und fragte mich, ob ich als Nachfolger von Hans Michelbach in den Vorstand des Verbandes kommen wolle, da er zum 1. Bürgermeister der Nachbarstadt Gemünden gewählt wurde (und dann ab 1994 bis 2021 Mitglied des Bundestags war). Ich sagte zu, übernahm ein Jahr später das Amt des Schatzmeisters für viele Jahre, war in den Ausschüssen für Bildung und Umwelt in München und Berlin und als Mitglied des bayerischen Präsidiums tätig. Nach zwei Wahlperioden als erster Vorsitzender und der Einführung des neuen Bezirksgeschäftsführers habe ich dann 2013 alle Ehrenämter in jüngere Hände gegeben.
Ein Fazit: 1982 war abwechslungsreich. Italien wird Fußballweltmeister, der ET– Film von Steven Spielberg kommt in die Kinos, im Herbst kommt der 1. „Computer“, der C64 auf den Markt und die Kiwi aus Neuseeland ist jetzt der neue Star in den Obstabteilungen der Märkte. Zigarettenpackungen tragen nun den schriftlichen Hinweis auf die Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens. Die schwedische Band ABBA trennt sich, die TOTEN HOSEN und DIE ÄRZTE werden gegründet.
Und was bringt das neue Jahr?
Rückblickend war 1983 das Jahr der Veränderungen und des Aufbruchs – in vielen Bereichen. Die Entwicklung der Märkte im Vorjahr machte Mut für neue Pläne. Den Sendelbacher Laden zu erweitern, das war die Idee, die wir dem Hausherrn und der EDEKA vorschlugen. Nach vielen Diskussionen und Planvarianten war letztendlich die Aufstockung des bisherigen Flachbaus die Lösung, um zu mehr Verkaufsfläche zu kommen. Die Realisierung sollte aber doch bis Mitte 1985 dauern.
Auch in der Politik gab es große Veränderungen. Im März kamen durch die vorgezogene Neuwahl die „Grünen“ erstmals in den Bundestag und somit auch die Jeans und Turnschuhe. Beim Besuch der CeBit, damals noch Teil der Hannover Messe, begann auch für mich ein neues Zeitalter. IBM hatte gerade den ersten Personal Computer XT vorgestellt. Aus Amerika kam die brandneue Technik des Scannings, über die ich mich am Prototyp intensiv beraten ließ. Da war der Entschluss, schnell mit dieser Technik in die Zukunft des Marktes zu gehen, bereits gefallen.
9,3 Millionen DM zahlte der „stern“ für die gefundenen Hitler – Tagebücher, bis sich wenige Tage später der Fälscher Konrad Kujau selbst enttarnte. Im Juni titelte der „Spiegel“: Tödliche Seuche AIDS, was auch heute noch weltweit für viel Leid sorgt. Papst Johannes Paul II ernennt Karl Lehman zum Bischof von Mainz (bis 2016), 2001 wird dieser zum Kardinal erhoben. Motorola bringt das erste Handy, den „Knochen“ mit 800 g. auf den Markt und unser Sohn Ralf startet jetzt erfolgreich im Kindergarten.
Der „heiße Herbst“ waren die Proteste von mehr als 1,3 Millionen für Frieden und gegen den Nato-Doppelbeschluss, wohl das gefährlichste Jahr des kalten Krieges.
In beiden Märkten waren wir sehr erfolgreich mit unserem Herbstmarkt, der großen Einkellerungsaktion. Ein besonderes Jubiläum konnten wir in den Tagen feiern. Unsere treue Mitarbeiterin Edda K. war seit 30 Jahren eine große Stütze für das Unternehmen und immer loyal. Viele unserer Stammkunden kannten sie ja noch als „Stift“ aus der Lehrzeit.
Alle rufen nach dem Frieden. „Rock für den Frieden“ heißt deshalb auch das Konzert von Udo Lindenberg im Palast der Republik in Ost-Berlin. Dort spielt er dann auf besonderen Wunsch von Erich den Song Sonderzug nach Pankow. In die USA kündigt Microsoft mit Windows 1.0 die Urversion seines Betriebssystems an. Der Astronaut Ulf Merbold startet als erster Bundesbürger mit dem Shuttle Columbia ins Weltall.
Alles in allem ein vielfältiges Jahr.
Die Entwicklung im Sendelbacher Markt in den zwei vergangenen Jahren war recht positiv gewesen. Wir entschieden uns daher, in der Zusammenarbeit mit EDEKA auf die Vermieter zuzugehen und mit Ihnen über eine Erweiterung der Verkaufsfläche zu sprechen. Das nebenan liegende Grundstück mit Baumbestand war in einem ziemlich verwahrlosten Zustand und bot sich eigentlich für die Erweiterung an. Da die Sparkasse Besitzer des Grundstücks ist und nichts abgeben wollte, wurden die Verhandlungen ohne Ergebnis beendet. Jetzt wurde die Alternative geprüft, den Flachbau aufzustocken und so die Nebenräume der Verkaufsfläche zuzuschlagen. Nach Wochen mit intensiven Planungen – der Hausherr ist selbst Architekt – begann im Spätherbst bei laufendem Geschäftsbetrieb der Umbau.
Bei den olympischen Winterspielen im Februar 1984 in Sarajevo gewann Katarina Witt die Goldmedaille im Eiskunstlauf. Die Sommerspiele in Los Angeles wurden von fast allen sozialistischen Staaten boykottiert. Dies wohl als „Retourkutsche“ für den Boykott vieler kapitalistischer Staaten bei der Olympiade 1980 in Moskau. Die seit Jahren stattfindenden Ostermärsche brachten wieder mehrere Hunderttausend Demonstranten für den Frieden auf die Straße. Auch auf der Straße wurde jetzt die bereits seit 1976 gültige Gurtpflicht zur Anschnallpflicht, bei Nichtbeachtung kostete das jetzt 40 DM Strafe.
War es der von F.J.Strauß in 1983 vermittelte Milliardenkredit – verbürgt durch die Bundesrepublik — der die bankrotte DDR dazu brachte, im Gegenzug die Ausreisebedingungen zu erleichtern? Trotzdem suchten immer mehr DDR-Bürger in den BRD-Botschaften von Prag, Warschau und Budapest Schutz und beantragten ihre Ausreise, manche traten dafür auch in den Hungerstreik. War das der Anfang vom Ende?
Am Ende war es Frankreich, das im Juni Europameister im Fußball wurde. Nicht so erfolgreich war die Suche nach einer Lehrstelle, im September waren noch fast sechzigtausend Jugendliche ohne Ausbildungsvertrag.
Mitte des Jahres kam der Personal Computer AT von IBM auf den Markt, die Entwicklungen gingen rasant weiter. Auch für den Chronisten war klar, dass das auch für die Zukunft im Handel von großer Bedeutung sein wird. So stand die Entscheidung fest, dass nach dem Abschluss des Umbaus die Wiedereröffnung des Marktes auch der Start in die Welt des Scannings sein sollte. Da gab es im Vorfeld noch viel zu tun, weil es auch keine Erfahrungen aus der Praxis dazu gab. Es lagen also spannende Wochen, Tage und Nächte vor uns, um diesen ehrgeizigen Schritt zum Erfolg zu führen.